114 Franz Oppenheimer, Staat und Gesellschaft.
auflehnte. Schon hier konstatiert die Gesellschaft als das Reich der Freiheit scharf genug mit dem
Staate als dem Reiche des Zwangs. Dieser Gegensatz wird dann von der sozialistischen Theorie
immer stärker herausgearbeitet; namentlich der Anarchismus mit seiner absoluten Staatsfeindschaft
hat hier das äusserste geleistet. Er will den Staat als mit Zwangsrechten ausgestattete Gemein-
schaftsorganisation völlig ausrotten; die von freier Gegenseitigkeit (Mutualismus) gelenkte Gesell-
schaft ist sein Ziel. Die Marx’sche Soziallehre dagegen perhorresziert nur den Namen „Staat“;
ihre Zukunfts-,‚Gesellschaft‘‘ ist mit noch mehr Zwangsgewalt ausgestattet, als der historische Staat,
der nur insofern verschwinden wird, wie er „Klassenstaat“ ist, d. h. eine vorwiegend im Interesse
der besitzenden Klasse zum Zwecke der Ausbeutung der Unterklasse bestimmte und fungierende
ung.
Schon aus diesem Gegensatz der beiden sozialistischen Hauptschulen geht hervor, dass
auch diese Begriffstrennung das Wesentliche verfehlt. Keine Gesellschaft der Welt ist denkbar, die
nicht gewisse Zwangsbefugnisse, d. h. etwas „Staat“ in diesem Sinne, durch Beamte gegen ihre Mit-
glieder besitzt, und sei es nur die Zwangsgewalt des Strafrichters und das Expropriationsrecht im
gemeinen Interesse. '
Man kann eben aus dem In h a lt. der beiden Begriffe kein zureichendes principium divisionis
gewinnen, weil Staat und Gesellschaft im sprachüblichen Sinne auf das engste mit einander ver-
flochten sind, sich gegenseitig wie zwei unregelmässige Figuren überlagern. Wohl.aber kann man
einen zureichenden Einteilungsgrund gewinnen, wenn man auf die Entstehung der beiden
Phänomene zurückgeht. Der Staatistdasentfaltete politische, die Gesell
schaft (im allgemeinen und die Wirtschaftsgesellschaft im besonderen) das entfaltete
ökonomische Mittel!
Dieser Gedanke ist vom Ref. zuerst 1903 in einem Aufsatz „Die sozialökonomische Geschichts-
auffassung‘ im „Archiv für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie‘ veröffentlicht, dann in
seinem „Staat“ (Frankfurt a. M. 1908) nach der staats- und geschichtsphilosophischen, und in seinem
Lehrbuch „Theorie der reinen und politischen Ökonomie“ (Berlin 1910) nach der wirtschaftsphilo-
sophischen Seite hin ausgebaut und vertieft worden. Im folgenden seien Gedankengang und Termi-
nologie kurz wiedergegeben.
Alles rationale Handeln des Menschen geschieht nach dem Prinzip des kleinsten Mittels, d.h.
dem Bestreben, mit möglichst geringem Aufwande den möglichst grossen Erfolg einer Bedürfnis-
sättigung zu erreichen. Aus diesem grössten Kreise hebt sich der engere Kreis der ‚Wirtschaft‘
als deutlich gesondert heraus. Wirtschaft ist ein Spezialfall der „mittelbaren rationalen Bedürfnis-
befriedigung‘. Ausserwirtschaftlich ist erstens alle „unmittelbare Bedürfnisbefriedigung‘“, die über-
haupt keines äusseren Objektes bedarf (z. B. der Spaziergang, der Geschlechts- oder Stillakt, die
Meditation); und ausserwirtschaftlich ist zweitens alle „mittelbare Bedürfnisbefriedigung‘“, die
zwar äusserer Objekte bedarf, aber keiner „‚kostenden“, keiner, die ,, Wertdinge‘‘sind, weilsie „kosten“,
(Das bekannteste und wichtigste Beispiel für diesen Fall ist die Atmung, die sich des ‚freien Gutes‘
der atmosphärischen Luft bedient.) Alle mittelbare Bedürfnisbefriedigung aber, die sich nicht
„freier‘‘ Güter und Dienste, sondern kostender Objekte, d. h. der Wertdinge, bedient, ist wir t-
schaftliche Bedürfnisbefriedigung. Und, da alles Wirtschaften sich erschöpft in der „Be-
schaffung‘‘ von Wertdingen und ihrer „Verwaltung“, d.h. ihrer Bewahrung vor Verlust und Verderb,
so ist Wirtschaft in exaktester FormeldieBeschaffungundVerwaltungvonWert-
dingen(kostendenObjekten)nachdemPrinzipdeskleinstenMittels.
Nun ist in der älteren Literatur niemals recht beachtet worden, dass der Mensch im histo-
rischen Verlaufe sich zweier polar entgegengesetzter Mittel bedient, um bedurfte Wertobjekte für
sich zu beschaffen, und zwar jeweils nach keinem anderen Kriterium als danach, welches von beiden
im gegebenen Zeitpunkt für ihn das „kleinste Mittel‘ darstellt. Diese beiden Mittel sind die en t-
golteneunddieunentgoltene, oder besser: die äquivalente und die inäquivalente Aneig-
nung oder Beschaffung. Die erste nenne ich das „ökonomischeMittel"; es zerfällt in zwei
Unterarten: die Beschaffung von Wertdingen durch die eigene Arbeit und die Beschaffung durch
einen als äquivalent betrachteten Tausch eigener Wertdinge gegen solche in fremdem Besitz. Die
zweite Hauptart, die Aneignung fremder Wertdinge ohne äquivalente Gegenleistung, nenne ich das