Adolf Tecklenburg, Allgemeine Würdigung der Herrschaftsformen. 165
Einrichtungen hin.) Minderung des Klassen- und Kastengeistes ist auch äusserlich gewährleistet
durch Beseitigung oder Einschränkung ererbter Familienauszeichnungen.*)
Über die hergebrachtermassen der Demokratie zugeschriebenen Nachteile stellt Bryce®)
eine lange Liste auf: Schwäche und Mangel rascher Entschliessung gegenüber Zufällen, Unstetig-
keit, häufige Meinungsänderungen, welche besonders in Angelegenheiten der Exekutive störend
wirken, innere Zwietracht und Missachtung der Autorität, Nivellierungssucht und Eifersucht gegen
hervorragende Persönlichkeiten, Majoritätstyrannei, Neuerungssucht und Verachtung der Tradition,
Zugänglichkeit gegenüber demagogischen Einflüssen. Indessen Bryce selbst weist namentlich
in Hinsicht auf die nordamerikanische Union nach, wie manche Vorwürfe dort nicht oder nicht mehr
am Platze sind. So bemerkt Bryce, dass die Regierung namentlich in kritischen Zeiten einer
unerwarteten Energie fähig sei, und weist zur Begründung gerade auf die Majoritätsherrschaft
in der Demokratie hin; dort zeitige sie den Vorzug, dass die Majorität die Minorität mit sich
fortreisse, dank des Vertrauens, das die Stimme des Volkes geniesse.*) Scharf gehen hier deuts he
Schriftsteller mit der Demokratie ins Gericht. Rehm“) führt ihre Mängel darauf zurück,
dass die demokratische Herrschaftsform dem Grundgedanken des Staats nicht entspreche,
dass er eine Willenseinheit an Stelle der Willensvielheit sein solle. ‚Selbst wenn die erwachsenen
Frauen von der Teilnahme an der Führung der Geschäfte noch ausgeschlossen sind, und ausserdem
wie nicht anders möglich, als Staatswille nicht erst der Wille aller, sondern der Wille der Mehrheit
der Staatsbürger gilt, immerhin ist noch eine weitumfassende Willensvielheit anstatt tatsächlicher
Willenseinheit vorhanden. Je grösser die tatsächliche Willensvielheit, aus welcher die rechtliche
Willenseinheit herzustellen ist, um so schwieriger ist es, diese Willenseinheit zu gewinnen.‘ Seydel®)
macht darauf aufmerksam, dass es bei der Stimmberechtigung in der Demokratie sich nur um eine
Gleichheit nach der Zahl, nicht nach der Würdigkeit handele, wie solches bereits Aristoteles unter-
schied. Die meisten Köpfe aber zählten natürlicherweise die niedersten Stände, und damit werde die
Demokratie abwärts gezogen. Praktisch äussere sich der Nachteil in jähem Wechsel der Mehrheiten,
wodurch Unstetigkeit in der Politik hervorgerufen werde, was nachteilig nach innen, wie nach aussen
zu wirke. Von demselben Grundgedanken ausgehend, wie Seydel], führt Hasba ch) aus, dass
die Demokratie, auf der Volkssouveränetätslehre erwachsen, die in Wahrheit ungleichen Menschen
sleich behandele und dadurch die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit hindere. Die
Demokratie führt zur Unterdrückung der Gewaltenteilung und zum Despotismus der Mehrheit.
Bemerkenswert ist Hasbachs Darstellung der einzelnen Nachteile der Demokratie, von welchen
wir die Kostspieligkeit und geringere Leistungsfähigkeit des Beamtentums, den mangelhaften Voll-
zux der Gesetze, die weniger soziale Verteilung der direkten Steuern, die Verkümmerung der
Selbstverwaltung hervorheben; der amerikanischen Heimstättengesetzgebung wird vorgeworfen,
sie beeinträchtige die Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit.
y- Die besondere Entwicklung der beiden modernen Herrschaftsformen.
Zwischen den beiden modernen Haupttypen der Herrschaftsformen hat sich eine Fortbildung
in ausgleichender Richtung vollzogen“); vor allem dadurch, dass die Monarchie demokratische Ele-
mente in sich aufnahm. Aber in unerwarteter Weise hat sich auch die Demokratie dem Konservatis-
mus der monarchischen Herrschaftsform durch Aufnahme des Referendums genähert. Schliesslich
hat sich der Bundesstaat als ein Institut erwiesen, bei welchem die Zugehörigkeit zu dem einen oder
anderen Typus sich überhaupt irrelevant gezeigt hat.
®) Beispiele: Verdienste Frankreichs, der Schweiz, der nordamerikanisohen Union um Ausbildung des
Wahlrechts und Referendums.
%) Bryce, II 599 ff.
&) Bryce, II 563.
“) Bryce, II 602£f.
) Rehm. Staatslehre 203.
®) Seydelin Hirths Annalen, 1898, S. 483.
sa) Hasbach, Die moderne Demokratie, 1912.
, v. Martitz, Die Monarchie als Staatsform, 1903, S. 23; Richard Schmidt, Allg. Staatslehre I
269, 270.