Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Philipp Zorn, Politik als Staatskunst. Ihr Begriff und Wesen. 5 
genug das Wort von der Vertretung des ganzen Volkes zum leeren Schall, ja fast zur Satire. Poli- 
tische und wirtschaftliche Verschiedenheiten innerhalb einer Nation werden niemalszu vermeiden sein. 
Schwere Gefahren aber werden dann befürchtet werden müssen, wenn Gegensätze religiöser oder 
konfessioneller Art, wenn Gegensätze nationalen Charakters innerhalb eines und desselben Staates 
bestehen und die Parteibildung innerhalb der Volksvertretung beeinflussen oder gar beherrschen. 
Ebenso werden die Verhältnisse schwierig, wenn in der Parteibildung die Gegensätze von Grund- 
anschauungen über die Form des Staatswesens, insbesondere monarchisch oder republikanisch oder 
über die Grundlagen des Erwerbslebens, sich ausprägen und um die Herrschaft ringen. 
Jede derartige Zersplitterung des Parlaments nötigt, falls nicht von vornherein eine gegebene 
feste Parteimehrheit vorhanden ist, zu Verhandlungen unter den Parteien behufs künstlicher Her- 
stellung einer Mehrheit zum Zwecke einer politischen, in erster Linie der gesetzgeberischen 
Arbeit im Staate. Durch die Notwendigkeit von Verhandlungen | über solche Parteiverbindungen 
wird die Kraft des politischen Lebens naturgemäss g; gmüssen, damitüberhaupt 
eine Mehrheit gewonnen werden kann, Zugeständnisse gemacht werden, die die politische Über- 
zeugungstreue auf schwere Proben stellen, ja selbst die politische Moral gefährden. Die staats- 
bürgerliche Erziehung des Volkes muss demgemäss als eine der höchsten Aufgaben betrachtet werden, 
um nach dieser Richtung eine weitere Gesundung des politischen Lebens und Vereinfachung der 
Parteiverhältnisse herbeizuführen. Immer aber werden im Stückwerx menschlicher Dinge Parteien 
bestehen und der ehrliche Kampf der Parteien wird auch das Beste des Volkes fördern. Aber die 
politische Erziehung wird mit aller Kraft dahin zu wirken haben, dass der hohe Idealismus des Ver- 
fassungswortes von der Vertretung des ganzen Volkes durch jeden einzelnen Volksvertreter we- 
nigstens insoweit zur vollen Geltung kommt, dass nationale Gegensätze innerhalb eines Parlaments 
überwunden und möglichst ausgeschieden, dass religiöse, konfessionelle, Kämpfe aus der weltlichen 
Politik beseitigt werden und dass die ehrliche Überzeugung anderer, selbst wenn es sich um poli- 
tische Kämpfe um die Grundlage des Staates handelt, nicht durch vergiftete Formen des Rede- 
kampfes verletzt werden. In grossen Staaten mit weitgehender Parteizersplitterung wird das poli- 
tische Leben gebieterisch fordern, dass Parteien, die ihren Grundanschauungen nach sich dauernd 
einigen können, diese Einigung herbeiführen; unter Umständen wird davon überhaupt die ganze 
politische Weiterentwicklung eines Volkes und Staates bedingt sein. Lediglich die politische Er- 
fahrung kann die Richtschnur geben, nach der die Möglichkeit und Dauerhaftigkeit einer solchen 
Parteiverbindung gemessen werden muss. 
6. Hat das Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung eines Volkes dahin geführt dass die 
früher in besonderen Staatsbildungen gesonderten Volksbestandteile zu einer Volkseinheit auch 
staatlich zusammengefasst sind, so wird der Weg dieser Entwicklung auch eine Antwort auf die 
Frage enthalten, ob nach Erreichung dieses Zieles: Volkseinheit als Staatseinheit, einem Teile des 
Volkes bezw. der diesen Teil darstellenden Staatsbildung eine besondere Vormachtstellung zukommt 
und gewährt werden muss. In den meisten modernen Staatsbildungen ist dies nicht der Fall, das 
Volk vielmehr zu voller Einheit in der Form des Einheitsstaates herangereift. Fast alle modernen 
Staaten zeigen uns diesen Entwicklungsprozess, zuletzt noch Italien ; auch in den Vereinigten Staaten 
von Amerika scheint dies zu immer stärkerem Ausdruck zu kommen und in dem Bundesstaate 
der Union das föderative Element immer mehr zurückzutreten vor dem Moment der Staatseinheit 
(Imperialismus). 
Besondere Verhältnisse bestehen in dieser Hinsicht im Deutschen Reiche. Auch hier bildet 
seit 1866/1870 die Grundlage die auf der Volkseinheit beruhende Staatseinheit und sie hat durch 
die Reichsverfassung und die praktische Entwicklung des deutschen Staatslebens seit 1866 zweifel- 
los feste Grundlagen gewonnen. Aber nicht wie in Italien hat dieser Einigungsprozess auch zu einem 
wirklichen Einheitsstaat geführt. Dies war nie beabsichtigt und widersprach auch der ganzen 
deutschen Geschichte, ja vielleicht dem deutschen Wesen. Das was an Einheit erreicht wurde, ist 
vielmehr die Einheit einer Vieiheit in der Form des sogenannten Bundesstaats, der im Verhältnis 
zum Einheitsstaat ganz zweifellos ein viel schwierigeres Staatsproblem darstellt. Die Erfahrung 
von vier Jahrzehnten hat aber erwiesen, dass dieses ' von der Meisterschaft Bismarcks abgewogene
	        
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