Fritz Berolzheimer, Methodik und Abgrenzung der Politik. 15
Während im Altertum Politik gleichbedeutend war mit Wissenschaft vom Staat,!) steht
heute nur so viel fest, dass Politik lediglich eine der Wissenschaften vom Staat bedeutet. Das
Wesen der politischen Wissenschaft findet man durch Betrachtung der Betätigungskreise, deren
Regeln die politische Wissenschaft zu bestimmen hat. Die für die politische Praxis geltenden oder
zu bestimmenden allgemeinen Gesichtspunkte oder Normen ergeben die politische Wissenschaft.?)
Diepolitische Praxis umfasst die Regierung der Machthaber im Staat, unter Aus-
schluss der Rechtsprechung; ferner die Wahrung der Gemeinschaftsinteressen gegenüber dem
Ausland, mit Ausschluss der internationalen und der Schiedsgerichts-Rechtsprechung; zum dritten
die Geltendmachung von Rechten und Ansprüchen der Regierten mit Bezug auf die Gemeinschaft
oder Gemeinschaftsteile, unter Ausschluss der im Prozessweg verfolgten?.) Das gemeinsame Kenn-
zeichen all dieser Akte, Regungen und Strebungen ist die Erstrebung, Entfaltung, Behauptung,
Verteilung oder Erweiterung von Macht mit Bezug auf die eigene oder fremde Gemeinschaft.
Politik als Wissenschaft ist daher Staats-Machtlehre.
Die Probe ergibt ein Blick auf den Inhalt der wissenschaftlichen Werke über Politik. Als
der Kampf zwischen Staat und Kirche um die Macht im Staat mit der Befreiung des Staats aus
kirchlicher Umklammerung endigte, galt es das Wesen der Souveränität festzulegen.) Der Des-
potismus findet seine wissenschaftliche Spiegelung bei Machiavelli.5) Der aufgeklärte Absolutis-
mus im Antimachiavel.6) Mit der politischen Befreiung der Bürgerschaft bildet der Parlamen-
tarismus?) den Kernpunkt der wissenschaftlichen Politik. Und seit der wirtschaftlichen Befreiung
des Proletariats stehen die Machtfragen der Arbeitgeber- und -nehmerverbände im Vordergrund.
Machtbehauptung, -verteilung und -erweiterung bilden das Wesentliche.®)
2. Geschichtliche Methode mit soziologischem Ausbau.
Das Untersuchungsobjekt bestimmt die Untersuchungsmethode. Jedermann sieht ein,
dass die Untersuchungsmethode des Strafrichters eine andere sein muss, als jene des Ingenieurs
oder Arztes. Wenn gleichwohl in der Politik, wie in anderen Geisteswissenschaften der Versuch
auftauchte, eine fremde, für andersgeartete \Wissenschaftszweige geeignete Methode herüberzu-
verpflanzen, findet dieses fehlerhafte Bemühen regelmässig seinen Grund in dem (begrüssens-
werten) Streben nach Voraussetzungslosigkeit. So sucht Fritz van Calker?) auf neukantschem
Boden a priori eine Idee der Vervollkommnung (= „Erhöhung der Leistungsfähigkeit‘‘) als Prinzip
4) roten zexvn — Staatenkunde und Sittenlehre im weitesten Sinn. — Noch Waitz, Grundzüge der
Politik (Vorbemerkung) setzt Politik gleich mit „wissenschaftlicher Erörterung der Verhältnisse des Staats.“
Auch die romanischen Völker und England treffen keine scharfe Scheidung. Vergl. Jellinek, Allgemeine Staats-
lebre, S. 6.
2) Rehm, Allgemeine Staatelehre, S. 9: „Die Politik als Lehre ist die Lehre von der Politik als Tätigkeit.“
®) Daher zu eng van Calker, Politik als Wissenschaft, S. 7: „Politik als Praxis... die Leitung der Staats-
angelegenheiten.‘
*) Dante bis Nicolaus Cusanus und die Tyrannomachen. Vergl. dazu mein System der Rechts- und Wirt-
schaftsphilosophie, Bd. II, S. 129—132, 141—145; Bd. III, S. 191 ff.
8) Discorsi und Il principe. (Vergl. dazu mein System, Bd. II, S. 133 £.)
Aus der Zeit des Absolutismus rührt die Auffassung der Politik als der Staatsk unst (v. Treitschke,
Politik, I, 1: „Alle Politik ist Kunst‘).
b ©) L’Antimachiavel ou examen du prince de Maciavel (1739). Vergl. dazu mein System, Bd. II, S. 183
is 186.
?) Vergl. mein System, Bd. III, S. 215—232.
®) Im wesentlichen treffend: Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers (in der 1. Aufl.) Bd. 4, S. 327
bis 347 (dagegen irrig ebenda Bd. 1, S. 559); Über den wissenschaftlichen Begriff der Politik, Ztschr. f. d, ges.
Staatswissenschaft, LIII, S. 579600.
hm, Allgemeine Staatslehre, S. 10, er sieht in der Politik: Staatskunstlehre, Staatsmacht- und Staats-
klugheitlehre. Aber die Gleichsetzung in dieser Trias ist unzutreffend. Staatskunst und -klugheit sind nur Mittel
zur Behauptung oder Erweiterung der Staatsmacht; auf diese letzte allein kommt es an,
®) Politik als Wissenschaft, S. 15 ff., 19, 27.