Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung. 977
drücklich verstanden wissen will (z. B. Art. 2 EG. z. BGB, $ 12 EG. 2.ZPO.). Im typischen
Sinne begreift man indessen unter „Gesetzgebung“ jetzt nur die formelle Gesetzgebung.
ber die Scheidung von „Gesetzesinhalt‘“ und „Gesetzesbefehl“ vgl. den späteren
Abschnitt des Handbuchs „formelle Gesetzgebung“.
Die Gegenüberstellung von formellem und materiellem Gesetze hat einen lebhaften Streit
der Meinungen entfacht, indem die einen in jedem Gesetze auch eine Rechtsvorschrift erblicken
(v. Martitz, Zorn, Löning), während andere den Begriff des Gesetzes formal fassen als von der
obersten staatlichen Gewalt ausgehende Vorschrift, ohne dass der Inhalt gerade eine Rechtsnorm
zu sein brauche (Gneist, Arndt, Bornhak). Beide Extreme sind indes im Ergebnisse für die Hand-
habung der Gesetzgebung nicht so sehr weit von der herrschenden Lehre (Laband, Anschütz,
Hubrich) entfernt, wie es den Anschein hat.!?2) Die Frage allerdings ist kein müssiger Lehr-
streit, sie ist politisch überaus bedeutsam. Es handelt sich darum, ob es nötig ist, für gewisse
Gegenstände die Organe der Gesetzgebung in Bewegung zu setzen, oder ob es möglich ist, durch
Anordnung eines Verwaltungsorgans vorzugehen, namentlich des Landesherrn. Den letzteren Weg
wird eine Regierung anstreben, um sich nichts von ihrem Recht zu vergeben, aber auch, um nicht
später bei dem Erfordernis einer Änderung an die Zustimmung des Parlaments geknüpft und in
ihrer Bewegungsfreiheit gehemmt zu sein.!?) Eine Regelung durch Verordnung ist nun in denjenigen
Fällen ausgeschlossen, wo eine Regelung durch Gesetz ausdrücklich gesetzlich vorgeschrieben oder
schon erfolgt ist, da die gesetzgebende Gewalt über der exekutiven steht; sodann und vor allem,
wo es sich um die Setzung einer Rechtsnorm handelt und nicht ein besonderer Vorbehalt getroffen
ist. Dieser Vorbehalt kann allgemein lauten. Er besteht in Preussen zugunsten des Königs für
Ausführungsvorschriften zu Gesetzen, für die Regelung der Behördenorganisation und für sogenannte
Notverordnungen, zugunsten nachgeordneter Instanzen für Polizeiverordnungen und für mannig-
faches Statutarrecht. Die Rechtslage ist im einzelnen nicht für jeden Staat dieselbe und ist trotz der
zeitweise mehr als lebhaften literarischen Bewegung auf diesem Arbeitsfelde noch keineswegs er-
schöpfend für die einzelnen deutschen Staaten untersucht. Im Reiche ist es streitig, ob dem Bundes-
rate das Recht zu Ausführungsvorschriften mit rechtsverbindlicher Kraft allgemein zustehe, was
die — nicht unanfechtbare — herrschende Lehre und das Reichsgericht verneinen. Unter diesen
Umständen wird gerade im Reiche vielfach der Ausweg einer Uebertragung (vgl. Ziffer 6) gewählt.
4. Reichsgesetz — Landesgesetz. In einem zusammengesetzten Staats-
körper, wie ihn das deutsche Reich zeigt, ist durch die Erhaltung der einzelnen Teile in ihrem Wesen
als Staaten auch die Möglichkeit geschaffen, dass innerhalb eines jeden Staatsgebietes und gegen-
über den einzelnen Staatsangehörigen ein doppelter Gesetzgeber vorhanden ist. Wer hier den
Vortritt haben soll, das wird nach Kriterien der politischen Entwicklung und des wirtschaftlichen,
zumal des Verkehrsstandes, verschieden bestimmt sein können. Der Satz „Landrecht bricht Reichs-
recht“ braucht nicht ein Zeichen staatlicher Ohnmacht zu sein — heute würden wir ihn aber
dermassen empfinden. Darum gibt Artikel 2 unserer Reichsverfassung dem Reichs gesetze den
Vorrang (wie es schon der Entwurf der Frankfurter Nationalversammlung begehrte). Soll diese
Regelung aber nicht gleichbedeutend sein mit einer unerwünschten Aufsaugung der einzelstaat-
lichen Gewalt, so muss eine Abgrenzung der Zuständigkeiten erfolgen. Dieser Anforderung ist
insbesondere durch Art. 4 der Reichsverfassung (unter Vorbehalt der Erweiterung Art. 78) Rechnung
getragen. Doch bleibt erheblichem Zweifel Raum, von welchem Zeitpunkte ab für den Einzelstaat
das Recht zur Gesetzgebung gesperrt ist. Man wird der Annahme beipflichten können, dass dies
erst nach einer gesetzgeberischen Betätigung des Reiches auf dem seiner Zuständigkeit zugeschrie-
benen Gebiete der Fall ist. Mit dieser Annahme ist aber nur die erste Schwierigkeit behoben. Es
bleibt Tatfrage, ob und inwieweit mit der Regelung einer Einzelfrage durch das Reich schon das
ganze Gebiet den Gliedstaaten verschlossen werde. Eine weitere Frage ist es, ob beim blossen
12) Rehm sucht den Ausgleich in einer dritten Gruppe ‚‚konstitutionelles Gesetz‘ (Verwaltungsarchiv 14,
1906, S. 353).
15) Die Frage war z. B. bei den Vorberatungen über die Errichtung einer Universität in Frankfurt a. M.
sufzuwerfen.