0 Karl Lamprecht. Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte.
zelnen historischen Disziplinen dahin verfolgt werden, dass sich die Stellung der Kulturgeschichte
immer selbständiger gestaltet, während die politische Geschichte als eine der Teildisziplinen histo-
rischer Wissenschaft neben die Disziplinen der Literaturgeschichte. der Kunstgeschichte, der Wirt-
schafts- und Sozialgeschichte tritt. Im folgenden soll der Versuch gemacht werden, vom psycho-
logischen Standpunkte aus die Entwicklung der Staatskunst, wie sie ja schliesslich innerste Seele
der Entwicklung jedes Staatswesens ist, zu schildern und dabei vornehmlich die typischen Formen
hervorzuheben. Geschieht das an der Hand der deutschen Entwicklung, so ist hierfür das Streben
nach stärkerer Veranschaulichung nur sekundär massgebend. Vor allem bleibt zu bedenken, dass
die bisherigen Forschungen bezw. Umwertungen bekannter Daten noch nicht soweit fortgeschritten
sind, um ein allgemein befriedigendes Bild jeglicher politischen Entwicklung, sei es in der Dar-
stellung von Entwicklungsformen, sei es in der Darstellung der Entwicklung von politischen Zeit-
altern, zu gestatten. \
I. Die Demokratie der Urzeit.
Will man den, Staat, den uns Caesar und Taecitus schildern, wirklich verstehen, so muss man
zunächst den historischen Moment zu fixieren suchen, in dem sich die Entwicklung dieses Staats-
wesens zu eben der Zeit befand, da die Römer ihn beschreiben. Als von vornherein für diesen Staat
charakteristisch ergibt sich da schon äusserlich, dass er sehr bald darauf, in der Zeit vom 2.—4.
Jahrhundert etwa, zugrunde gegangen ist, und zwar nicht bloss durch äussere Ereignisse, sondern
noch mehr durch innerliches Absterben, wie es der Übergang der deutschen Stämme zum Stammes-
herzostum und zu verwandten Formen bezeugt. Der Staat des Caesar und Tacitus ist also keine
junge Bildung, sondern stellt vielmehr den Abschluss einer längeren Entwicklung dar, deren An-
fänge wir freilich chronologisch zu fixieren nicht in der Lage sind. Zieht man aber die innere Struk-
tur des germanischen Staates heran, so ergibt sich leicht, dass in ihm schon zwei grosse Verfassungs-
tendenzen verwirklicht sind, nämlich einmal die einer primitiven Geschlechterverfassung, und
daneben die einer militärischen Umbildung der mit der Geschlechterverfassung gegebenen Elemente.
Das jüngere Moment ist dabei also der speziell militärische Charakter, das Aufkommen derjenigen
Motive, welche sich mit kriegerischen Wanderungen einstellen mussten, und derjenigen Erschei-
nungen, welche, wie z. B. das Gefolge, aus der Differenzierung nomadischer und auch schon primi-
tiver agrarischer Verhältnisse in arm und reich ihren Ursprung nehmen konnten. Hält man diese
beiden Elemente der Verfassung des 1. Jahrhunderts vor und nach Christus auseinander, so gelingt
wohl auch noch ein Rückblick in die Zustände vor der militärischen Umbildung, und von ihm wird
bei der Entwicklung der praktischen Politik und Staatskunst in der deutschen Geschichte avs-
zugehen sein.
Was man unter diesen Voraussetzungenals ursprünglich beiden Germanen vorfindet, kann man
wohl am besten als urzeitliche Demokratie bezeichnen. Wir schen da eine Reihe von Geschlechtern,
deren jedes, zunächst selbständig neben dem anderen stehend, seine eigene innere Verfassung
hat. Diese Verfassung hat zwei Pole. Einmal die Autorität des Ältesten oder Häuptlings. Anderer-
seits die absolut gleichwertige Stellung der einzelnen dem Geschlechte angehörigen Individuen,
soweit sie männlich und erwachsen sind. Auf diesen Momenten ist der Hauptsache nach die Ge-
schlechterverfassung mit ibrem primitiven Erbrecht, Vormundschaftsrecht und vor allem mehr
moralischen Verfügungsrecht über die einzelnen Personen innerhalb des Geschlechts überhaupt
aufgebaut. Über den Geschlechtern aber erhebt sich der Staat noch ganz deutlich als eine aus den
Geschlechtern hervorgeganzene Bildung, die sich zu den Geschlechtern etwa verhält, wie kompo-
site Pflanzenblüten zu einfachen Blütenformen. Es ist auch noch deutlich zu erkennen, welches
die Motive zu der Entwieklung der kompositen Bildung gewesen sind. Hauptsächlich kommen hier
die Mögliehkeiten des Streites zwischen Individuen oder mehr kompakten Massen der einzelnen
Geschlechter in Betracht, wie sie vor allen Dingen in der Blutrache in Erscheinung traten. In diesem
Zusammenhang konnte es bekanntlich vorkommen und ist es in späteren Zeiten noch häufig genug
geschehen, dass der Totschlag eines Mannes aus der Sippe A zu einer Fehde dieser Sippe gegen
jedes beliebige Exemplar des männlichen Bestandes der Sippe B führen konnte, worauf dann die