Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

350 K. Schulz, Die Entlastung des Reichsgerichts. 
Sukkumbenzstrafen des französischen Rechts sind eng verbunden mit dem formalen Charakter 
der Kassation; sie würden für unser Empfinden nur bei frivoler Einlegung des Rechtsmittels er- 
träglich, bei der Seltenheit solcher Fälle aber unwirksam sein. 
Die Herabsetzung der Mitgliederzahl der Senate von sieben auf fünf würde geringen 
praktischen Nutzen bringen und doch in vereinzelten Fällen, bei weittragenden nur mit Majorität zur 
Entscheidung kommenden Fragen die geistige Potenz des Senats und die Erwägung der Frage von 
allen Seiten beeinträchtigen. Die Überweisung der Prozesse, bei denen Landesrecht als verletzt ge- 
rügt wird, an oberste Landesgerichte,®) wie sie für Bayern besteht, könnte nur wenig helfen, zumal 
sie nur für Preussen ernstlich in Betracht zu kommen hätte. Die Forderung, die Rechtssachen, 
in denen die Entscheidung Fragen des öffentlichen Rechts behandeln muss, vom Reichsgericht 
noch mehr fern zu halten,?) als es durch die bisherige Gesetzgebung und Praxis geschieht, verkennt 
das Ineinandergreifen von öffentlichem und Privat-Recht im einzelnen Fall. Die Ausscheidung 
strenger durchzuführen ist, eine kaum zu lösende gesetzgeberische Aufgabe. 
Der Vorschlag, statt eines Reichsgerichts solcher mehrere, etwa „zwei, drei oder lieber gleich 
vier‘ zu errichten!) und dem freien Wettbewerb um die bessere Einsicht die Einheit der Recht- 
sprechung zu überlassen, bedarf wohl keiner ernstlichen Widerlegung. Er mutet uns einen Verzicht 
auf Errungenschaften der deutschen Einheitsbewegung zu, die niemand preisgeben will. Italien ist 
bestrebt, seine fünf Kassationshöfe in Zivilsachen durch einen einheitlichen Gerichtshof zu ersetzen. 
Der Plan eines Oberreichsgerichts als einer vierten Instanz würde bei vier Reichsgerichten wohl nicht 
lange auf sich warten lassen. 
Mittelbar eine Entlastung des Reichsgerichts herbeizuführen beabsichtigt der Plan, ein 
eigenes „Amt oder einen Reichsgerichtshof für bindende Gesetzesauslegung‘ zu schaffen.!!) Man 
verspricht sich eine Stärkung der Rechtssicherheit durch die Tätigkeit eines solchen Amtes. Würde 
diese auch in einzelnen mehr furmalen Fragen möglich erscheinen, so würde sie doch in anderen 
Fällen leicht zu einem unerträglichen Zwang und zu einer Hemmung der freien Geistestätigkeit 
des Richters führen, die viel schlimmer wäre als das Übel, welches beseitigt werden soll. Das zu 
begründende neue Reichsamt hätte aus etwa 21 Mitgliedern (darunter 6 Richtern) zu be- 
stehen. Es soll die bei der Rechtsprechung hervortretenden Unvollkommenheiten der Gesetz- 
gebung und Rechtsanwendung durch neue bindende Vorschriften heilen. Diese würden so lange 
gelten und auch für das Reichsgericht verbindlich sein, bis sie vom Amt selbst oder durch Gesetz- 
gebung wieder aufgehoben werden. Ich halte das für unvereinbar mit der Aufgabe eines obersten 
Gerichtshofs. Die bindende Gesetzauslegung zieht die Fesseln für erspriesslicherrichterliche Tätigkeit, 
wie sie die mangelhafte Gesetzgebung unserer Zeit mehrfach bietet, nur enger. Nur die Prüfung 
und Entscheidung der einzelnen Fälle ist die zweckmässige Grundlage für die Fortbildung des Rechts 
durch Auslegung. An der Mannigfaltigkeit der besonderen Fälle ist die Bedeutung und Tragweite 
der gesetzlichen Vorschriften zu messen und festzustellen. Nur so lässt sich in das Gefäss der 
Worte der Geist der Auslegung füllen. 
Wie auch die Wirkungen des Gesetzes betr. die Zuständigkeit des Reichsgerichts vom 22. Mai 
1910 sich endgültig gestalten werden, mit der allerseits für notwendig erachteten allgemeinen und 
gründlichen Reform der Zivilprozessordnung wird die Frage der zweckmässigen Gestaltung des 
Rechtsmittels letzter Instanz wieder brennend werden. Die stärkere Besetzung der Senate, die man 
bei der Ausführung des genannten Gesetzes anstatt einer Vermehrung derselben gewählt hat, ist 
nicht ohne nachteilige Wirkung auf den inneren Zusammenhang, auf die Festhaltung der Einheitlich- 
keit und aufden zusammenfassenden Einflussdes Präsidenten geblieben. Der vonden Entscheidungen 
der Gerichte als menschlicher Einrichtungen nicht völlig fernzuhaltende zufällige oder aleatorische 
®) Hagensa. a. O.; Hellwig, Die Notlage des Reichsgerichts. Jurist. Woohenschr. 1910 S. 308, 
Neumann daselbst $. 315. \ 
°») Hartmann in D. Jur. Zeit. 1909 S. 1407 und 1910 S. 279. 
10) Bekker, Grundbegriffe des Rechts. Berlia 1910. S. 310. 
1) Zeiler, Ein Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung, Münohen 1911. Dagegen Silber- 
sohmidt, Die deutsche Rechtseinheit. Berlin 1911 S. 39 ff.
	        
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