Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

38 Adolf Menzel, Begriff und Wesen des Staates. 
Die Weltgeschiohte kennt überhaupt nur staatlich organisierte Völker; die soziologische 
Theorie kann daher nur als eine Hypothese für die vorgeschichtliche Zeit angesehen werden. Übri- 
gens hat einer der bedeutendsten Historiker der Gegenwart den überzeugenden Nachweis erbracht) 
dass die Annahme eines staatlosen Urzustandes der Menschheit weder empirisch noch deduktiv 
begründet werden kann, dass der Staat ebenso alt ist wie das Menschengeschlecht, ja in einem ge- 
wissen Sinne älter als dasselbe. Schliesst man sich dieser Auffassung an, dann verliert die sozio- 
logische Staatsidee völlig ihre geschichtliche Grundlage. Dazu kommt, dass die Bildung von Kasten 
und Klassen nachweisbar häufig andere Ursachen gehabt hat als die kriegerische Unterwerfung 
eines Volksstammes. Die Herrschaft des Priesterstandes z. B. kann schwerlich auf derartige Er- 
eignisse zurückgeführt werden; der Untergang des freien Bauernstandes in Deutschland hat 
mit der Unterjochung durch eine siegreiche Volksgruppe nicht das ınindeste zu tun. 
Die soziologische Richtung hat das grosse Verdienst, die Aufmerksamkeit auf die gesell- 
schaftlichen Gegensätze innerhalb des Staatsganzen hingewiesen, die Klassenbildung und die 
sozialen Abhängigkeitsverhältnisse in scharfe Beleuchtung gerückt zu haben. Ihr Irrtum besteht 
jedoch darin, dass sie die trotz aller Gegensätze bestehende Solidarität der Interessen des staatlich 
geeinten Volkes ignoriert und namentlich jene Faktoren nicht würdigt, welche gegenüber den 
Klassengegensätzen die Gesamtaufgaben des Staates wahrnehmen und verteidigen. Heer und Be- 
amtentum und in den monarchischen Staaten die Krone stellen solche Faktoren dar, welche ge- 
eignet sind, dem Staste den Charakter einer Klassenherrschaft zu benehmen. Ist doch selbst der 
Hauptvertreter der soziologischen Staatsidee genötigt anzuerkennen,”) dass der Staat als oberster 
Friedensbewahrer und Verteidiger aller mit seinem Bestande nicht unvereinbarer Interessen der 
sozialen Kreise und Gruppen eine natürliche Funktion ausübe. Trifft dies zu, dann ist der Staat 
doch etwas anderes als organisierte Klassenherrschaft, dann ist er nicht ein Fabelwesen, wie ihn 
Anton Menger bezeichnet hat;!*) er fällt dann nicht zusammen mit der im politischen oder wirt- 
schaftlichen Kampfe siegreichen Menschengruppe, so gross auch der Einfluss sein mag, den die- 
selbe innerhalb einer zeitlich beschränkten Epoche auf die Aktionen des Staates auszuüben vermag. 
Die Gesamtinteressen des staatlich geeinigten Volkes verstehen sich dessenungeachtet durchzu- 
setzen. 
III. Organische Theorie. 
Die Auffassung des Staates als Organismus bedeutet zunächst, dass die politischen 
Assoziationen der Menschheit auf naturgegebener Grundlage beruhen. Der Staat erscheint dem- 
zufolge nicht als eine künstliche Schöpfung reflektierender Vernunft, sondern als ein notwendiges 
Produkt menschlicher Anlagen, er bildet keinen Mechanismus, sondern einen Organismus. Dies 
gilt nicht nur vom Staat im allgemeinen, sondern auch von der konkreten Gestaltung, welche die 
politische Organisation eines Volkes angenommen hat. In dieser Beziehung wirken drei Faktoren 
zusammen für die Ausgestaltung der individuellen Staaten: die geographischen Bedingungen des 
Territoriums, die ethnische Veranlagung (Rasse und Nationalität) und schliesslich die geschicht- 
liche Entwickelung des betreffenden Volkes. Innerhalb der dadurch gegebenen Schranken ver- 
bleibt der bewussten Einwirkung des menschlichen Willens ein beschränkter Raum für seine Be- 
tätigung. 
In dieser allgemeinen Bedeutung wird die Richtigkeit der organischen Staatsauffassung in 
der Gegenwart kaum ernstlich bestritten. Neben der hohen Wertschätzung, welche dem geschicht- 
lichen Faktor schon in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beigelegt wurde, sind in 
der zweiten Hälfte desselben eingehende Untersuchungen über die geographischen Grundlagen der 
staatlichen Entwicklung’) und über die politische Anthropologie gefolgt, welche, wie alle neuen 
12) Ed. Meyer o. no. O., 
13) Gumplowicz S. 162: „Dabei fällt dem Staate die Rolle zu, die ungleichen sozielen Elemente durch eine 
ihnen aufgezwungene Reohtsordnung stete in einem labilen Gleichgewicht zu erhalten.‘“ Wie kann aber der „Staat‘“ 
denn identisch sein mit der herischenden Gruppe ? 
14) „Neue Stastslehre‘“‘ S. 201. 
ı*) Hierher gehören namentlich die bedeutenden Werke von Fr. Ratzel,
	        
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