Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Hans v. Frisch, Die Aufgaben des Staates in geschichtlicher Entwickelung. 47 
  
schiedenheit der Völker und Länder auch Verschiedenheit in die Aufgaben bringt. Endlich bleiben 
eio sich auch im Wechsel der Zeiten nicht gleich, sondern ändern sich mit dem Fortschritte von 
Zivilisstion und Kultur. 
Ein Blick auf die Literatur des Themas zeigt aber ferner, dass neben der grossen Mannig- 
faltigkeit in der Beantwortung auch eine geradezu grenzenlose Verwirrung herrscht und diese ist 
zurückzuführen auf unklare Terminologie ın der ganzen Lehre. Man war sich nicht bewusst, dass 
unter dem Zweck des Staates ganz verschiedene Dinge begriffen werden können. Es ist das unbe- 
strittene Verdienst Jellineks, aus der seit Jahrhunderten herrschenden Unklarheit heraus 
den Weg zu klarer Erörterung des Problems gezeigt zu haben.!) Das Durcheinanderwerfen dreier 
auf ganz verschiedene Dinge gerichteter Fragen war schuld an der Verwirrung in den Antworten. 
Erstens wurde gefragt nach dem „Zweck der Institution des Staates in der Ökonomie 
des historischen Geschehens im Hinblick auf die letzte Bestimmung der Menschheit‘; zweitens 
kenn die Frage darauf gerichtet sein, welchen Zweck einkonkreter Staatinder Geschichte 
gehabt habe, eine Frage, die zu gewisser Zeit in der Literatur einen breiten Raum einnahm. Diese 
beiden Fragen nennt Jellinek die nach dem „objektiven Zweck‘‘ des Staates, erstere die 
nach dem „universalen“, letztere die nach dem „partikularen‘‘ Staatszweck. Er weist sie beide 
in das Gebiet metaphysischer Spekulation, die mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln empirischer 
Forschung nicht zu beantworten sind. Deshalb haben die in dieser Richtung gehenden Unter- 
suchungen, so beliebt und umfangreich sie auch zeitweise waren, niemals ernste wissenschaftliche 
Resultate gezeitigt. Sie können heute nur mehr historisches Interesse beanspruchen. Endlich ist 
noch drittens die Frage möglich, „welchen Zweck die Institution des Staates in einem gegebenen 
Zeitpunkt für die Eingegliederten und damit für die Gesamtheit besitze‘; diese Theorien gehören 
der neueren, historisch denkenden Zeit an und sie allein geben uns eine der modernen Auffassung 
des Staates entsprechende Antwort. In ihren Grundlinien sind sie von Jellinek in einer das 
Problem abschliessenden Weise entwickelt worden. 
Aus der Fragestellung ergibt sich schon, dass es sich hier um ein historisch-politisches Pro- 
blem handelt, dass die Materie insbesondere keine juristische Behandlung zulässt.2) Für den juri- 
stischen Staatsbegriff ist es ganz gleichgültig, welche Aufgaben dem Staate zugesprochen werden. 
Daher ist es auch eine Verkennung des ganzen Problems, von „natürlichen‘‘ oder „notwendigen“ 
Aufgaben des Staates zu sprechen, von Aufgaben also, die ihm von Natur aus ein für allemal als 
seinem Wesen entsprechend zukommen müssten. Solche Theorien kann man nur für einen Ideal- 
typus des Staates aufstellen, was ja auch oft genug geschehen ist. Diese, nach der Jellinek’schen 
Terminologie „absoluten“ Theorien setzen dem Staat einen Zweck, der für alle Zeiten und jede 
Form des Staates derselbe bleibt. Aber sie sind ebensowenig zu realisieren wie das Staatsideal. 
Ihnen gegenüber stehen die Theorien von den relativ-konkreten Staatszwecken, die 
auf die realen staatlichen Verbältnisse zurückgehen und die stets wechselnden tatsächlichen Um- 
stände in Betracht ziehen. — 
Ein Überblick über die Literatur der Frage zeigt, dass die Lehre vom Zweck des 
Staates zu verschiedenen Zeiten ein beliebtes Gebiet philosophischer, politischer und staatsrecht- 
licher Untersuchungen war. Man pflegte das Thema aber nicht gesondert, in monographischer Dar- 
stellung zu erörtern, sondern untersuchte es im Rahmen der staatsrechtlichen, naturrechtlichen, 
philosophischen und anderer Systeme; in den Lebrbüchern der Politik und Staatskunst nimmt die 
Erörterung bisweilen einen breiten Raum ein. Als Beweis für die verschiedene Bewertung und Be- 
trachtungsweise des Problems dient, dass sich einerseits die Behauptung findet, ohne Erkenntnis der 
Zwecke könne das Wesen des Staates garnicht begriffen werden, während andrerseits von einzelnen 
Schriftstellern der Staatszweck überhaupt geleugnet wird. Zwischen diesen beiden Extremen 
finden sich alle Abstufungen mehr oder minder eingehender Behandlung der Frage je nach der 
Bedeutung, die ihr beigelegt wird. 
ı) Allgemeine Stastslehre (2. Aufl. 1906) S. 223 ff. 
*) Vergl. die treffenden Bemerkungen bei Ansohütz, Deutsches Staatereoht, in v. Holtzen- 
dorffs Enzyklopädie der Reohtewissenschaft (6. Aufl.) II. S. 473.
	        
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