Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

102 Julius Wolf, Die öffentlichen Abgaben in Deutschland. 
meinden auswandert, diese Gemeinden (es handelt sich um die Grossstädte) sonach die Be- 
völkerung empfangen, nachdem sie auf Kosten deranderen Gemeinden ihre „Zurichtung“ 
empfangen hat, erkennt man, dass es sich um ein gesamtstaatlich.es Problem handelt 
und der Staat früher oder später mit der Forderung, mindestens einen Teil dieser Last 
auf sich zu nehmen, sich zu beschäftigen haben wird. 
Das wäre also die eine der Möglichkeiten. 
Die Gemeinden können aber in Preussen auch 2. ihre direkten Steuern ausbauen durch allge- 
meinere Ausdehnung der Einkommensteuer auf dieunteren Einkommensklassen bis 420 Mk. herab, in- 
soweit das nicht bereits geschehen, sie können 3. die Erhebung indirekter Steuern, die ihnen bereits ge- 
stattet sind oder solcher, die ihnen durch neues Gesetz zu gestatten wären, erwägen. Beides ist 
unter sozialem Gesichtspunkte odios ‚) wenn man auch freilich heute in weitesten Kreisen der 
Wissenschaft, wie der kommunalen Praxis darüber einig ist,!*) dass in der radikalen Abschaffung 
aller für den Gemeindesäckel irgend ins Gewicht fallenden Verbrauchssteuern zu weit gegangen 
wurde. Aus diesen beiden Titeln würde aber, wie immer man es anstelle, nicht zu viel zu holen 
sein. Mehr wohl 4. aus einer Gemeinde-Kapitalsteuer??) behufs Kompensation der bisher bloss 
auf den Realbesitz gelegten Ertragssteuern.!) Indes würde auch diese Steuer, zumal — von 
anderen Bedenken zu schweigen — ihre technischen Schwierigkeiten nicht unterschätzt werden 
dürfen,!*) den Stand der Kommunalfinanzen nicht wesentlich und vor allem kaum dauernd zu 
bessern vermögen. Ebensowenig erscheinen aus sozialen und anderen Gründen 5. die Tarife 
der städtischen Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke, der Strassenbahnen etc., sowie die ver- 
schiedenen kommunalen Gebühren noch wesentlich steigerungsfähig. 
Der Staat kommt sonach um die Aufgabe der Übernahme eines Teils der bisher den Ge- 
meinden erwachsenen Aufwendungen (hauptsächlich für die Schule) schwerlich herum. Die ihm 
hier, wie es scheint, zufallende Aufgabe dürfte aber gleichzeitig mit der anderen in Angriff zu 
nehmen sein, einen gewissen „Ausgleich“ in dem Finanzstand der verschiedenen Gemeinden 
herbeizuführen, Die Unterschiede der Leistungsfähigkeit sind heute enorm. Dieselben weisen 
auf die Notwendigkeit einer „Ausgleichung“ hin, wobei diese ihre innere Rechtfertigung auch 
daraus holt, dass (wie schon erwähnt) heute die überhoch besteuerten Gemeinden als Aus- 
wanderungsgemeinden vielfach die Schullasten für die minder hoch besteuerten Ein wanderungs- 
gemeinden tragen. 
V. Abschliessende Würdigung des Abgabensystems von Reich, Staaten und Gemeinden. 
Bei Würdigung des Abgabensystems in Deutschland wurde früher häufig der Fehler begangen, 
die Reichs- und bundesstaatlichen Finanzen, deren Daten leicht zu erheben sind und jeder- 
mann zur Verfügung stehen, dem Urteil zugrunde zu legen, ohne die Gemeindesteuern, welche 
„nicht weniger drücken‘, heranzuziehen. Dabei ergab sich einganz verkehrtes und infolge- 
dessen völlig unbrauchbares Bild. Es musste darum die Forderung erhoben werden, 
bei aller Betrachtung des Abgabensystems in Deutschland die gemeindlichen Abgaben nicht als 
„quantite negligeable‘“ zu behandeln, sie vielmehr als den anderen Abgaben durchaus gleichwertig 
in die Rechnung einzustellen. 
Die Verwirrung, welche die Bezugnahme auf Reichs- und Staatsabgaben allein mit Ver- 
nachlässigung der kommunalen stiften musste, ergibt sich schlagend aus folgender Übersicht :*) 
!:) Was nicht bindert, dass ein Ausbau der Gemeindeeinkommensteuer „nach unten hin“ bereits erfolgt, 
vgl. Otto Landsberg, Die Entwicklung des Gemeindeabgabenwesens in den preussischen Städten, in den 
Schriften des Vereins für Sozialpolitik, 127. Band, „Gemeindefinanzen“, 1910, S. 23. 
16) Vgl. selbst Adolf Wagner, Die finanzielle Beteiligung der Geme'nden usw. S. 36 ff., sowie aus der 
Praxis E nst Scholz, Das heutige Gemeindebesteuorungssystem in Preussen, Schriften des Vereins für Sozial- 
politik, 126. Band, „Gemeindefinanzen“‘ 1908, S. 304 ff., und Landsberg, a. a. O,, S. 30ff. 
”) Vgl. Erost Soholz, a. a. O,, 8. 3141. 
18) Vgl. Alex. Tille, Die Steuerbelastung der Industrie in Reioh, Bundesstaat und Gemeinde, S. 64 ff. 
1) Vgl. Lnndabeorg, a. u. OÖ. S. 40. 
?) Eotnommen moimem Buche „Die Reichsfinsnzreform“ S, 75 und 82.
	        
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