Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

Bd 
198 K. Th. von Eheberg, Steuerreformen. 
wendig zur Folge gehabt hätte. Nur die, anfangs unbedeutenden, Stempelabgaben und die Matri- 
kularbeiträge — letztere soweit sie aus direkten Steuern der Einzelstaaten flossen und tatsächlich 
entrichtet wurden — konnten als Einkommens- und Besitzsteuern gelten. Allein diese machten bis 
1900, von ganz wenigen Ausnahmefällen abgesehen, nie mehr als ein Zehntel der Zölle und Verbrauchs- 
steuern aus. Solange es irgend ging, suchte man im Deutschen Reiche den rasch und stark anwachsen- 
den Bedarf durch Erhöhung und ergiebigere Ausgestaltung der alten grossen Verbrauchssteuern zu 
befriedigen, neben denen nur die Verkehrssteuern seit 1881 wiederholte Steigerungen erfuhren. 
Auch die seit 1900 beginnende finanzielle Kalamität des Reiches wurde vorwiegend durch Erhöhung 
der alten Steuern und Einführung neuer Verbrauchsabgaben zu beseitigen versucht. Die Finanz- 
reform von 1909 erhoffte aus der Erhöhung der Bier-, Branntwein-, Schaumwein-, Tabak- und 
Zigarettensteuer sowie aus der neuen Leuchtmittel- und Zündholzsteuer und aus der Erhöhung des 
Tee- und Kaffeezolles bezw. aus der Beibehaltung der vollen Zuckersteuer und der Fahrkarten- 
steuer rund 365 Mill. Mk. zur Deckung des Mehrbedarfes von 500 Mill. Mk. Aber das Reich konnte 
doch nicht umhin, auch die Besitz- und Einkommensteuern für Reichszwecke in Anspruch zu nehmen. 
Es war diesschon 1906 geschehen durch Einführung der Reichserbschaftssteuer, wodurch den Bundes- 
staaten nur mehrein Dritteldesinihren G fgel Rohertrages (und dasRecht zur Ein- 
führung von Deszendentensteuern und zur Normierunghöherer Steuersätze)belassen wurde und es ge- 
schah dies noch mehr bei der Finanzreform von 1909 durch Erhöhung verschiedener Stempelsteuern, 
durch Einführung einer Grundstücks-Umsatzsteuer, einer Talon-, einer Schecksteuer, durch Ver- 
kürzung des Anteils der Einzelstaaten an der Reichserbschaftssteuer auf ein Viertel und durch Er- 
höhung der Matrikularbeiträge auf das Doppelte; es geschah dies im Jahre 1911 durch 
Einführung der Reichszuwachssteuer, von der allerdings ein erheblicher Teil den Gemeinden und 
Einzelstaaten verbleibt, und vollends durch Reichssteuergesetzgebung vom 3. Juli 1913, welche 
den Wehrbeitrag und die Besitzsteuer brachte (s. 39. Abschnitt). Der Zustand im Deutschen 
Reiche war nach dem Etat von 1911 so, dass von den gesamten Einnahmen des Reiches 
aus Steuern und Matrikularbeiträgen mit 1531 Mill. Mark 1214 Mill. Mk. aus Verbrauch 
und Aufwand, 317 Mill. aus Einkommen und Besitz fliessen. Während früher nur ein Zebntel 
des Reichssteuerbedarfs aus den beiden letzten Quellen floss, ist es 1911 ein Fünftel. 4 + 
Immerhin ist das Verhältnis der Verbrauchssteuern und Zölle zu den Besitz- und Einkommen- 
steuern in Deutschland, Reich und Einzelstaaten zusammen genommen, günstiger als in Frankreich 
und in England. Schon i. J. 1911, also noch vor der jüngsten Gesetzgebung, entfielen nach 
den Angaben im Statistischen Jahrbuch des deutschen Reichs 1911 S. 369 bei uns auf Zülle 
und Verbrauchssteuern etwa 1500 Mill., auf Verkehrs- und direkte Steuern rund 1140 Mill. 
Mk., was ein Verhältnis von 53 zu 47 ergäbe. Dabei ist aber zu beachten, dass in Deutschland 
das kommunale Steuerwesen, das bereits über ein Drittel aller Steuern ausmacht, fast ganz 
auf den besitzenden und leistungsfähigeren Klassen der Bevölkerung liegt, während in England, 
trotz der direkten Form der Kommunalbesteuerung, die minderbemittelten Klassen in viel 
höherem Masse zu den kommunalen Lasten herangezogen werden, und in Frankreich, den 
andern romanischen Staaten und Österreich das Oktroi noch in starkem Masse in Anspruch 
genommen wird. 
II. 
Die geschichtliche Übersicht über das Steuerwesen seit 1800 bis zur Gegenwart hat gezeigt, 
dass dieses reich ist an Bewegungen und Gährungen, an Veränderungen und Neubildungen. Kein 
Staat ist von ihnen verschont geblieben und in manchen Staaten ist kaum ein Jahrzehnt ohne grössere 
oder kleinere Reformen verlaufen. Bezeichnend für diesen Entwicklungsprozess ist die allmähliche 
Verschiebung der durch die Reformen angestrebten Ziele. Zwar die Veranlassung ist in den weitaus 
meisten Fällen die gleiche: es ist regelmässig der Zwang, der von den gesteigerten Bedürfnissen des 
Staates oder der anderen öffentlichen Körper ausgeht und auf Erhöhung der Steuereinnahmen 
drängt. Aber je länger je mehr treten bei der Durchführung der Reformen auch andere Rücksicht- 
nahmen in Konkurrenz mit den rein fiskalischen. Waren es zu Anfang des vorigen Jahrhunderts 
politische Erwägungen, die in vielen deutschen Staaten, in Österreich, später noch in Italien zur
	        
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