Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

K. Th. von Eheberg, Steuerreformen. 129 
Unifikation und Umbildung des Steuerwesens führten, eo ist der weitere Verlauf der Reformen 
mehr durch die tiefgreifenden Veränderungen im wirtschaftlichen und sozialen Leben, die Umge- 
staltungen der Produktionstechnik, die Lockerung der alten ständischen und beruflichen Gliederung, 
die zunehmende Differenzierung der Einkommen und Vermögen, die Beweglichkeit der Kapitalien 
und zahlreiche andere Ursachen beeinflusst worden. Neue politische und soziale Ideen treten auf. 
Die Ausstattung immer breiterer Massen mit politischen Rechten zwingt zur Rücksichtnahme auf 
deren Forderungen. Das soziale Gewissen erwacht und wird durch die sozialistische Kritik und die 
ethischen Anschauungen, die in der Volkswirtschaftslehre sich Bahn brechen, wach erhalten. Dieser 
Ideenrichtung kann die formale Gleichheit un Gerechtigkeit, wie sie die alten Ertragssteuersysteme 
zu verwirklichen trachteten, nicht mehr genügen. Man will im Steuerwesen den wirklichen Ein- 
kommens- und Vermögensverhältnissen möglichst nahe rücken, die Besteuerung möglichst der 
Leistungsfähigkeit anpassen. Diese Bewegung fand an der Wissenschaft, wenigstens an der deutschen 
seit den 1870er Jahren, kräftigen Rückhalt. Immer heftiger wird der Kampf gegen die sog. in.lirekten 
Steuern, die Verbrauchsabgaben unı die Zölle, deren Wirkung auf den Einzelhaushalt unberechenbar 
und unkontrollierbar ist und von denen man, und in der Regel auch mit Recht, eine stärkere Be- 
lastung der unteren Klassen anzunehmen sich für berechtigt hält. Freihändlerische Strömungen 
und parteipolitische Dogmen verhindern zudem, wenigstens in Deutschland, eine Ausbildung 
staatlicher Monopole, obwohl diese noch am ehesten eine Anpassung der Steuer an die Leistungs- 
fähigkeit der Verbraucher verbürgt hätten. Wo Verbrauchssteuern nicht umgangen werden können, 
da fordert man im Interesse einer ausgleichenden Gerechtigkeit eine stärkere Heranziehung der be- 
eitzenden Klassen durch rationelle Ausgestaltung der direkten Steuern. Der Ruf nach der allge- 
meinen Einkommensteuer, der in Deutschland seit 1848 nicht mehr verstummte, hat sich allmählich 
so bemerkbar gemacht, dass, wie die historische Übersicht zeigte, ihr Sieg heute besiegelt ist. In 
ihr glaubt man den richtigen Repräsentanten einer Besteuerung nach der Leistungsfäbigkeit ge- 
funden zu haben. Sie ist aber nicht nur der Ausdruck demokratischer Forderungen geworden, 
sondern hat auch ihrerseits wieder die ganze Frage der Gerechtigkeit im Steuerwesen neu angeregt. 
Nur sind es jetzt mehr die feineren Probleme der Progression, der Abstufung der Steuersätze, der 
Festsetzung des Existenzminimums, der Berücksichtigung der individuellen, die Leistungsfähigkeit 
mindernden Verhältnisse, die sich in den Vordergrund der Betrachtung geschoben haben. Ebenso 
und von gleichen Grundideen ausgehend hat man, anfangs schüchtern, später immer entschiedener, 
die Vorbelastung des fundierten Einkommens durch Vermögens- oder auf Besitz beruhende Ertrags- 
steuern, zum Teil auch durch andere Besitzabgaben, vorn hmlich die Ausgestaltung der Erbschafts- 
besteuerung, gefordert. Des weiteren hat in nahezu allen westeuropäischen Staaten, in Deutschland 
sowohl wie in Österreich, England, Frankreich, das Anwachsen des Kommunalbedarfes zur Frage 
nach der zweckmässigsten Ordnung des kommunalen Steuerhaushaltes angeregt. Die Vorschläge, 
die in dieser Hinsicht gemacht wurden, und die tatsächlich durchgeführten Reformen mussten auch 
auf das staatliche Steuerwesen zurückwirken. Es musste die Frage nach einer geeigneten Austeilung 
der Steuern auf Staat und Gemeinde erwogen und entschieden, Kommunal- und Staatsbesteuerung 
in ein organisches Verhältnis zu einander gebracht werden, so dass jede für sich der besonderen 
Natur des betreffenden öffentlichen Körpers und die Gesamtbesteuerung doch dem Wesen der 
finanziellen Einheit von Staat und Gemeinde entsprach. Dazu trat in Deutschland mit der Be- 
gründung des Reiches die schwierige Aufgabe, auch den Bedürfnissen des Reiches nach Steuerein- 
nahmen gerecht zu werden, olıne den Gliedstaaten ihren Anspruch auf solche zu verkümmern, und ohne 
die im Einzelstaat mühsam errungenen Fortschritte aufdem Wege zur Steuergerechtigkeit aufzuheb 
oder allzusehr zu beeinträchtigen. Vergegenwärtigt man sich diese steuerpolitischen Schwierig- 
keiten, neben denen noch zahlreiche andere rein politischer, technischer, wirtschaftlicher Art einher- 
gehen, so kann es nicht wunder nehmen, dass z. B. die Finanzreformen des Reiches von 1906 und 
1909 eine schier unüberschbare Literatur hervorgerufen haben, die überreich ist an Kontroversen, 
je nach der politischen Auffassung, der wirtschaftlichen Stellung, dem finanziellen Verständnis und 
dem sozialen Empfinden der Verfasser. 
Schon die heute noch bestehenden, oft weit auseinandergehenden Meinungsverschieden- 
heiten, die tatsächlichen Unterschiede im Steuerwesen der einzelnen Staaten, die rastlos sich voll- 
Handbach der Politik. II. Auflage. Band II. 9
	        
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