Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

Georg v. Below, Deutschkonservative und Reichspartei. 7 
  
gleichen und direkten Wahlrechts ist da, wo sie erfolgt ist, auch nicht zum besonderen Behagen der 
Liberalen durchgesetzt worden.?) Wenn sie heute hier und da von ihnen verlangt wird, so geschieht 
es wesentlich aus taktischen Gründen. Von einem Teil der Liberalen und den Demokraten wird das 
allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht freilich wie ein Naturrecht gefordert. Dem gegenüber stellen 
die Konservativen bei jedem Wahlrecht die Frage, ob mit ihm eine Regierung des Staats noch 
möglich sei. Sie gehen von der Erfahrung aus, dass sich bisher noch kein bestimmtes Wahlrecht 
als ein Allheilmittel erwiesen hat. So wenig die Partei die Absicht hat, das bestehende Reichstags- 
wahlrecht zu beseitigen, so widerstrebt sie doch einer weiteren Demokratisierung unserer Ver- 
fassungsverhältnisse. In den verschiedenen Bundesstaaten nehmen die Konservativen zur Wahl- 
rechtsfrage im einzelnen eine abweichende Haltung ein. In Preussen sind sie zu einer Reform des 
Dreiklassenwahlrechts in Einzelheiten bereit, halten jedoch an einer starken Abstufung fest. Preussen 
würde, wie die Dinge zurzeit liegen, die Aufgabe, die ihm für das Reich zugewiesen ist, nicht erfüllen 
können, wenn es ein vollkommen demokratisches Wahlrecht hätte.*) Die Konservativen sehen auch 
eine einfach schematische Verteilung der Reichstagsmandate nach der Bevölkerungszahl als un- 
zweckmässig an, in der Erwägung, dass Beschlüsse, die schlechthin durch die staatliche Notwendig- 
keit diktiert waren, doch nur unter der Voraussetzung der jetzigen Wahlkreiseinteilung (mit un- 
gleicher Bevölkerungszahl) zustande gekommen sind.) Die Konservativen halten die Heran- 
ziehung aller Schichten und Gruppen der Bevölkerung zur Teilnahme am politischen Leben für 
förderlich; sie hegen jedoch nicht die Meinung, dass die mit dieser Teilnahme gegebenen Vorteile 
an ein absolut gleiches Wahlrecht geknüpft sind. Vereinzelte konservative Stimmen haben den 
Aufbau der parlamentarischen Vertretung auf berufsständischer Grundlage empfohlen. Doch ist die 
Partei solchen Vorschlägen nie näher getreten. 
Mit der Ablehnung der vollständigen Demokratisierung der Verfassung ist für die Konser- 
vativen ein bestimmtes Verhältnis zur Sozialdemokratie gegeben. Sie vertreten die Anschauung, 
dass bei stärkeren Erfolgen der Sozialdemokratie dasjenige Mass von individueller Freiheit, das 
wir heute besitzen, und speziell auch diejenige Bewegungsfreiheit, die für das wirtschaftliche Ge- 
deihen eines Volks erforderlich ist, nicht: bewahrt werden können. Während die Linksliberalen, die 
früher den ausgeprägt individu lichen Standpunkt repräsentierten, gegenwärtig den 
Forderungen des Sozialismus weit entgegenkommen, halten die Konservativen, ohne irgendwie 
zum Manchestertum zurückzukehren (s. unten über ihre Stellung zur Sozial- und Wirtschafts- 
politik), an einem gesunden Individualismus fest.®) 
In dem Verhältnis der Konservativen zu der Freiheit und Selbständigkeit der Gemeinden 
und Korporationen im Staate, zu den Fragen der Selbstverwaltung stritten früher zwei Prinzipien 
mit einander: während einerseits die Überzeugung von der Notwendigkeit einer kräftigen obrig- 
keitlichen Gewalt Misstrauen gegen die freie Bewegung lokaler Instanzen und der Korporationen 
einflösste, forderte man andererseits (zumal vom romantischen Standpunkt aus) für sie mehr oder 
weniger Autonomie. Einen Ausgleich dieser scharfen Gegensätze, die einen erspriesslichen Ausbau 
der Verwaltung hinderten, und überhaupt einen Wandel in der Stellung der Konservativen zu jenen 
Fragen brachte die preussische Kreisordnung vom Jahre 1872,°) um die sich die Freikonservativen 
besondere Verdienste erworben haben. Diese hatten auch schon vorher für das platte Land eine 
Selbstverwaltung gefordert, wie sie die Städte seit der Stein’schen Städteordnung besassen. Vom 
Jahre 1872 ab sind unter wesentlicher Mitwirkung der Konservativen wichtige weitere Gesetze über 
die Fortbildung der Selbstverwaltung verabschiedet worden. Heute reden sie durchweg einer 
?) Über Geschichte und Berechtigung der in Deutschland in Betracht kommenden Arten des Wahlrechts 
s. meine Schrift: Das parlamentarische Wahlrecht in Deutschland (1909). 
®) Vgl. meine angeführte Schrift S. 55, 82, 123 ff. 
9) Ebenda S. 57 ff und 82f. 
9a) Der Gedanke, dass es heute die Konservativen sind, welche das Recht der freien Persönlichkeit ver- 
teidigen, ist neuerdings von Grabowsky in einem Artikel der Neuen Preussischen (Kreuz-) Zeitung (vom 4. Mai 
1911, Nr. 208) näher ausgeführt worden, an den sich eine lebhafte Diskussion angeschlossen hat (wieder abgedruckt 
bei Röder a. a. O. S. 5ff.). 
10) Vgl. P. Schmitz, Die Entstehung dor preussischen Kreisordnung vom 13. Dezemb. 1872. Berlin 1010.
	        
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