Otto Schwarz, Die öffentlichen Kredite. 155
bei einsichtigen Männern des Parlaments das Fehlen jeglicher Tilgungsvorschrift als bedenklich
empfunden zu werden. Man muss es als das Verdienst des Zentrums (Abg. Lieber) anerkennen,
zuerst auf die Notwendigkeit einer Schuldentilgung nachdrücklich hingewirkt zu haben.
Die Massnahmen der Clausula Franckenstein, welche im Laufe der 80er Jahre den Einzel-
staaten alljährlich erhebliche Beträge aus den Reichszöllen u. -steuern auch über die Matrikularum-
lagen hinaus zuwies, musste gegenüber der dabei stark steigenden Reichsverschuldung als eine unbe-
dachte und in gewissem Masse leichtsinnige Finanzwirtschaft des Reiches erscheinen. So wurden
denn auf Antrag derjenigen Partei, welcher die Verantwortung der Cl. Fr. in erster Linie zufiel,
des Zentrums, die sog. leges Lieber erlassen, welche bestimmten, dass der grössere Teil des etwaigen
rschusses der Gesamtsumme aller Überweisungen an die Bundesstaaten über die Matri-
kularbeiträge des betr. Jahres hinaus zur Tilgung der Reichsschuld zu verwenden sei.13) Leider
erwiesen sich die Vorschriften der leges Lieber in der Wirklichkeit nicht als so nützlich, wie sie ge-
dacht waren, weil sie Überschüsse voraussetzten, während die steigende Finanznot des Reiches
seit Ende des 19. Jahrhunderts die glückliche Zeit der Mehrüberweisungen an die Bundes-
staaten endgültig beseitigte.
Der Gedanke, in irgendeiner Form eine obligatorische Tilgung im Reiche einzuführen,
kam gleichwohl nicht mehr zur Ruhe, um so weniger, nachdem Preussen in seinem Gesetze v.
8.3. 97 (GS. S. 43) eine gesetzliche Prozentualtilgung durchgeführt (3/, %) und zugleich be-
stimmt hatte, dass alle rechnungsmässigen Überschüsse (die etatsmässigen Überschüsse
waren schon nach Ges. v. 18. 12.1871 (RGBl. 593) grundsätzlich zur Tilgung zu verwenden) zur
ausserordentl. Schuldentilgung verwendet werden mussten. So wurde zunächst in der kleinen
lex Stengel von 14. 5. 1904 (RGBl. S. 169) im $ 2 bestimmt, dass — unter Abänderung des Art. 70
derRV. — in Zukunft etwaige Überschüsse aus den Vorjahren, insoweit durch den Reichshaus-
halt nicht ein anderes bestimmt wird, zur Deckung gemeinschaftl. ausserordentlicher Ausgaben
dienen sollten, was einer Tilgung bezw. Schuldminderung gleichkam.
Weiter bestimmte der $ 4 des Reichs-Ges. v.3.6.06 (RGBl. S. 620), dass von 1908 ab
jährlich 3/,% der Reichsschuld aus bereiten Staatsmitteln getilgt werden sollten (evtl. durch
Verweisung auf Anleihe).
Aber es stellte sich bald heraus, dass alle gesetzlichen und Zwangstilgungen das Vorhanden-
sein genügender laufender Mittel zur wesentlichsten Voraussetzung ihrer Wirksamkeit haben.
Wenn beim Mangel solcher 1908 u. 1909 von der Durchführung der Bestimmung in
$4 a.a.O. abgesehen werden musste, so hatte diese beschämende Tatsache den guten Erfolg,
dass man die durch die Reichsfinanzreform neu zu schaffenden Mittel reichlich genug
bemass, um die erforderlichen Beträge für eine angemessene Schuldentilgung sicherzustellen.
Die Erörterungen in der Öffentlichkeit über die enoıme Schuldenvermehrung verfehlten ihre
Wirkung auch auf das Parlament so wenig, dass auf Anrıgung aus dessen Mitte eine über die in
Preussen festgesetzte Schuldentilgung noch weit hinausgehende Tilgung der Reichsschulden vor-
geschrieben wurde. Nr. 3des R. G. v. 15..7.09 (RGBl. S. 743) bestimmte, unter Ausserkraftsetzung
der Tilgungsbestimmungen des RG. v. 1906, dass — abgesehen von etwa 100 Mill. Anleiheschulden,
die in den letzten Jahren für Fernsprechanlagen, Reichseisenbahnen, Arbeiterwohnungen und
Darlehen für Kolonien gemacht und mit besonderen Tilgungsplänen versehen waren, die aufrecht
erhalten blieben, — alle bis 30. September 1910 aufgenommenen Anleihen mit mindestens 1%,
die nach dieser Zeit aufgenommenen Anleihen, soweit sie für werbende Zwecke aufgenommen sind,
mit mindestens 1,9%, alle anderen Schulden sogar mit mindestens 3% getilgt werden mussten.
Die ersparten Zinsen, welche mit 344%, anzusetzen sind, müssen ebenfalls zur Tilgung ver-
wendet werden. Die Tilgung kann ebenso, wie dies das Preuss. Tilgungsgesetz von 1897
vorgesehen hatte, auch durch Verrechnung auf Anleihe erfolgen. Doch hat man neuerdings,
um die Kurse der Reichs- und Staatsanleihen zu heben, mehr auf den Rückkauf von An-
leihetitres als auf Verrechnung auf ‚Anleihen Wert gelegt (s. darüber den Artikel: Die Kurse
unserer Reichs- und Staatsanleihen.)
2) Näheres s. Schwarz u. Strutz, Staatehaushalt, Bd. III, Buch 3, S. 122.