12 Ludwig Weber, Christlich-Soziale.
das Volk‘ in die christlich-soziale Bewegung hinein. Er sah in der sozialen Frage einen Abgrund:
der vor dem deutschen Leben klaffte, und er sprang hinein, „zuerst ohne die Tiefe zu ermessen,
weil er nicht anders konnte‘. Stöcker war der Ansicht, dass die soziale Frage nicht lediglich eine
wirtschaftliche, aus der modernen Produktionsweise herzuleitende sei. Er hielt mit Recht die so-
ziale Frage auch für eine religiöse und sittliche, und er wollte in dem „Christlich-sozial‘ zum Aus-
druck bringen, dass es im Neuen Testament „allgemeine menschen- und weltbeherrschende Grund-
sätze“ auch für das soziale Gebiet gäbe: ‚Der Mensch ein Haushalter Gottes, das blosse Sammeln
irdischer Schätze keine des Christen würdige Arbeit, B liebe, Barmherzigkeit.die höchste Pflicht‘.
Auf dem Grunde dieser biblischen Anschauung entstand das christlich-soziale Programm,
Man stellte sich auf den Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland.
Man: verwarf die gegenwärtige Sozialdemokratie als unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch.
Man erstrebte eine friedliche Organisation der Arbeiter, um in Gemeinschaft mit den anderen Fak-
toren des Staatslebens die notwendigen praktischen Reformen anzubahnen. Hieran wurden eine
Anzahl Einzelforderungen an die Staatshilfe, die Geistlichkeit, die besitzenden K assen und die
Selbsthilfe geknüpft. Politisch ging dann — im Zusammenhang mit der „Ber..ner Bewegung“
— die christlich-soziale Arbeiterpartei allmählich in eine Gruppe der konservativen Partei über
und wurde damit ihrer Freiheit und Aktionskraft, sowie des Antriebs zur Propaganda und ÖOr-
ganisat on beraubt. Wohl betrieb man in der konservativen Partei die Sozialpolitik, so
gut man konnte, aber man ıand viele Hindernisse. Von Theologen bekannten sich von
Anfang an zur christlich-sozia en Partei ein Walter Burckhardt, Ernst Böhme, W. Philipps,
L. Weber, Fritsch, Bernbeck, Schwartzkopff; von Männern anderer Stände ein Graf Solms-
Laubach, ein Dr. Burckhardt, viele Fabrikanten des Siegerlandes, ein L. K. Vietor in
Bremen, ein F. Bebrens und unzählige spätere Arbeiterführer auf evangelischer Site. Die langsam
sich entwickelnde, aber seit 1895 mehr und mehr als cine Macht auf den Plan tretende „Christlich-
nationale Arbeiterbewegung‘ sah in allen ihren Gliedern, ob katholisch oder evangelisch, in Stöcker
einen ihrer ersten und besten Vorkämpfer. 1895 löste sich das Band zur konservativen Partei
durch Schuld der Konservativen, die Stöcker aus dem Elferausschuss hinausdrängten, aber nicht
ohne Mitschuld Stöckers, der Gerlach zu lange als Redakteur des „Volk“ festgehalten hatte. An
der Vorberatung des erweiterten christlich-sozialen Programms, das zu Eisenach angenommen
wurde, hatte im Hause Stöckers noch als konservativer Vertreter Graf Roon teilgenommen. Die
Erweiterung der Grundlage der christlich-sozialen Partei zeigte sich in dem Eisenacher Pro-
gramm in dessen erstem Satz: „Die christlich-soziale Partei (nicht mehr „Arbeiterpartei“)
erstrebt auf dem Grund des Christentums und der Vaterlandsliebe die Sammlung der vom christlich-
sozialen Geist durchdrungenen Volkskreise aller Schichten und Berufe“; die Erweiterung des
Ziels in der Forderung des Kampfes „‚gegen den falsch«n Liberalismus und die drückende Kapitals-
herrschaft, gegen das übergreifende Judentum und die revolutionäre Sozialdemokratie‘. Stöcker
vertrat diechristlich-sozialen Ideen machtvoll im Parlament. 1879—98 war er Landtagsabgeordneter
für Minden-Ravensberg, 1881—1893 und dann wieder seit 1898 Reichstagsabgeordneter für Siegen.
Neben Bennigsen, Windthorst, Richter, Bebel war er der bedeutendste Redner des Parlaments,
von einer Sachkenntnis auf seinem Gebiet, von einer Schlagfertigkeit und Wucht, wie sie nur selten
auf der Parlamentstribüne vorkommen. Nach Stöckers von Hunderttausenden, ja Millionen
b.trauertem Tode ist die von ihm begründete Partei festgefügt geblieben und hat auf ihrem Partei-
tag zu Siegen 1910 ihre Grundsätze einmütig und einstimmig wie folgt festgelegt:
Grundlagen.
1. Die ahristlich-soziale Partei erstrebt auf dem Grunde des Christentums und der Vaterlandsliebe die
Durch.dringung unseres Volkes in allen seinen Schichten und Berufen mit christlioh-sozialem Geiste. Sie will allen
schaffenden Ständen in Stadt und Land, dem Mittelstand wie der Arbeiterschaft, der Landwirtschaft wie der In-
dustrie und dem Ilandel mit gleicher Freudigkeit dienen und auch für die gerechten Forderungen der Angestellten
in Staots-, Gormeinde. und Privatbetriolien kräftig eintreten.
. 2. Die christlich-soziale Partei bekümpft deshalb alle unchristlioehen und undeutschen Einrichtungen, die
den inneren Zusammenbruch und den äusseren Umsturz herbeiführen müssen; insbesondere richtet sie ihre Waffen
gegen die Auswüchse des Kapitalismus und die Sozialdemokratie. Sie erstrebt eine nuf der Solidarität der Gesell-
soliaft berubende Wirtschaftsordnung.