Friedrich Zahn, Das Deutsche Volk. 215
Reiches Wohlfahrt. \ie nichts im Leben mehr bindet als gemeinsame Ziele, so bindet auch
politisch noch mehr als die Vergangenheit die gemeinsame Zukunft, sie ist eine starke Willens-
gemeinschaft, die, richtig dem Verständnis der Allgemeinheit näher gerückt, tiefer wirkt als
jede Erinnerung, weil sie den ganzen Menschen im innersten ergreift.
Die Bekanntschaft mit den tatsächlichen Verhältnissen leistet da vorzügliche Dienste. Unter
ihrem Zwang, unter ihrem Bann verflüchtigen sich Vorurteile, einseitige Interessenmeinungen,
profitiert das Gesamtinteresse unter Wahrung des Suum cuique, erweitert sich der Sinn für das
Ganze und das Mögliche, werden die Energien zur Selbstbehauptung und Durch setzung unserer
nationalen Interessen geweckt und gekräftigt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die durch
die neueste Statistik aufgenommene Inventur über das Deutsche Volk von besonderem Wert; sie
fördert — abseits von Partei- und sonstiger subjektiver Meinung — den realistisch politischen Blick,
die Einsicht in das innere Gefüge des Volks, in die Existenzbedingungen des Reichs und seine Ent-
wicklungstendenzen, sie führt zur nüchternen Schärfe eines unbestechlichen Wirklichkeitssinns
und zur kühlen Berechnung.
Je mehr diese Kenntnis wirtschaftlicher, gesellschaftlicher Tatsachen verbreitet wird,
um so mehr wird die wirtschaftliche Einsicht vermehrt. Wirtschaftliche Einsicht aber ist wirtschaft-
liche Kraft. Dies gilt für die Regierung wie für die Massen. Mit der Selbsterkenntnis auf der Basis
des zeitlichen und räumlichen Vergleichs, also mit früheren Zeiten und anderen Völkern, schwindet
die Eifersucht, kommt der Eifer, der nachzukommen sucht, stellt sich von selbst das weitere ziel-
bewusste Streben des Volkes ein, kommt der Wille zur Tat, wird aus dem Lernvolkein
Tatvolk.
Pflege der Energien im Volk ist aber das beste Gegengewicht gegen die mit Zunahme
des Wohlstandes auch in Deutschland auftretende Gefahr der Saturiertheit, der Verweichlichung,
der Decadence. Die sicheren Grundlagen eines erfolgreichen nationalen Charakters — sagt Th.
Roosevelt — beruhen auf den grossen Kampfeseigenschaften, die nicht nur im Krieg, sondern auch
im Frieden sich offenbaren können, sie sind verkörpert in den kampfesfreudigen Recken, die mit
nie erlahmender Tatkraft und Zähigkeit unter Aufbietung aller Kräfte einem grossen schwierigen
Ziel nachstreben. Solche Naturen entspriessen seltener den wohlhabenden Klassen, wo der in der
Notwendigkeit liegende Sporn fehlt. Dagegen (um mit Carnegie zu reden) „in ehrlicher Armut
geboren und gezwungen zu sein um des Lebens Notdurft in der Jugend zu arbeiten und zu kämpfen“,
das ist die beste Schule, seine Fähigkeiten zu entwickeln, den Charakter zu stählen, sich zu nütz-
lichem Glied der menschlichen Gesellschaft heranzubilden. Das ist die Schule, aus der zumeist
unsere Führer hervorgegangen sind, das schafft die zu Taten berufenen feurigen Naturen, bei
denen — wie H. Treitschke so schön sagt — Charakter und Bildung zusammenfallen und jede
Erkenntnis als ein lebendiger Entschluss in der Seele glüht. Grund genug, der Aufwärts-
entwicklung der unteren Klassen Raum zu schaffen und auch in wohlhabenden Kreisen das
heranwachsende Geschlecht zur Freude an der Arbeit, zur gewissenhaften Erfüllung der Pflicht,
zur Charakterstärke, zur Ausbildung der Energie zu erziehen! Die Kraft, Reichtümer zu erwerben,
ist wichtiger als der Reichtum selbst.
Geht solche Politik Hand in Hand mit einer verständigen Förderung sonstiger
Einfachheit, Abhärtung und körperlicher Tüchtigkeit (Turnen, Sport, Militärdienst), so ermög-
lichen wir eine gehörige Entfaltung der Persönlichkeit, des Selbstvertrauens, des dem
Wirtschaftsleben Schwungkraft verleihenden Unternehmungsgeistes, des tatenfrohen Organisations-
talents. Und wir sorgen für ein starkes, weitblickendes Führertum, das in unserem Zeitalter
der ausgeprägten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Koalitionen noch mehr als früher von
Bedeutung ist. Darin liegt aber zugleich die Gewähr für weitere nachhaltige Rühr-
samkeit des Volkskörpers, für Ausbildung unserer sozialen Gesamt-
kraft, für Hebung des Gesamt-Niveaus, für Steigerung der wirtschaft-
lichen, wehrhaften und kulturellen Gesamtleistung der deutschen
Nation.