918 Friedrich Zahn, Geburtenrückgang in Deutschland.
Ob in den wenigen Staaten, wo eine Erhöhung der Geburtenziffer nachgewiesen wird, wie
in Portugal, Bulgarien, Rumänien, Argentinien, Chile, Japan, Ceylon etc. diese tatsächlich vor-
handen oder nur die Methode der statistischen Erfassung eine andere ist, muss hier dahingestellt
bleiben.
Der also auch in Deutschland bestehende Rückgang der Geburten ist an sich auffallend. Der
Wohlstand hat bekanntlich in allen Schichten der Bevölkerung zugenommen, ‚der Anteil der
einzelnen Bevölkerungsschichten an der Steigerung des gesamten Einkommens ist geradezu ver-
blüffend gleichmässig“ (K. Helfferich). Auch die Frequenz der Ehen hat keineswegs nachgelassen.
Zwar ist die Heiratsziffer vom Jahre 1901 bis 1912 von 8,24 auf 7,91 (1911: 7,85) °/ gesunken.
Aber die Ehehäufigkeit der 20 bis 25 Jahre alten Frauen ist gewachsen (von 124,9 auf 127,8 %/,,)
die Zahl dieser Ehen (256 490) ist etwas grösser als die Hälfte aller im Jahre 1911 geschlossenen.
Bei den Ehen noch jüngerer Frauen war die Ehehäufigkeit 1911 ebenso gross wie 1901. Nur
die Ehen der über 25 Jahre alten Frauen (der Zahl nach !/, der Gesamtheit) haben an Häufigkeit
abgenommen. Es wird mehr und frühzeitiger als ehedem, insbesondere in den Arbeiterklassen
geheiratet, das Heiratsalter hat sich verjüngt, die Ehedauer verlängert, der verheiratete Teil in
den produktiven Altersklassen hat zugenommen.
Aber die Fruchtbarkeit der einzelnen Ehen ist zurückgegangen. Zwar bringt die unter
25 Jahre alte weibliche Bevölkerung auch jetzt nicht weniger Kinder zur Welt als in den
80 er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Indessen, bei den über 25 Jahre alten Frauen ist ein
starker Rückgang der Geburten erfolgt. Daher sind Ehen mit 3 und mehr Kindern nicht mehr so
zahlreich wie früher. An dieser Gesamterscheinung sind die mittleren und oberen Klassen sowie
die der Zahl nach be- sonders massgebenden Arbeiterschichten beteiligt.
1.
Ursachen des Geburtenrückgangs.
Der Grund des Rückgangs der ehelichen Fruchtbarkeit ist weniger physiologischer Art,
von Erschöpfung der Rasse kann wohl kaum eine Rede sein. Vielmehr handelt es sich hauptsächlich
um freiwillige Beschränkung der Fruchtbarkeit, la fecondite est reglee par la volonte!
Diese Beschränkung beruht vorwiegend auf öl isch-rationalistischen Erwägungen und
daneben auf sozial-pathologischen Ursachen, welch letztere zum Teil von ersteren mitveranlasst sind.
Mit der fortschreitenden Zivilisation gewinnt die bisher schon in gebildeteren Klassen ver-
tretene wirtschaftliche Einsicht an allgemeinerer Ausdehnung und gleichzeitig suchen auch die
unteren Schichten ihre Lebensführung zu verbreitern. Die wirtschaftliche Einsicht bringt eine
höhere Wertschätzung und Pflege alles Lebens und damit eine bessere Fürsorge für die zur Welt
gekommenen Kinder mit sich, man will Kinder nicht bloss in die Welt setzen, sondern bemüht sich,
sie auch ordentlich aufzuziehen. Weil infolgedessen weniger Säuglinge sterben, werden aus wirt-
schaftlichen (auch aus psychologischen und physiologischen) Gründen weniger geboren.
Daneben erkennen mit fortschreitender Bildung immer weitere Massen der Bevölkerung,
dass viele Kinder weder dem Interesse der Familie noch dem Interesse des einzelnen Kindes
entsprechen, und gelangen so zu einer ähnlichen Rationalisierung des Geschlechtslebens, wie schon
seither die höheren Klassen. Diese geburtenhemmende Erkenntnis wird besonders veranlasst durch
die vielseitigen Bedürfnisse, die auch bei den Massen immer mehr hervortreten, und um deren
Befriedigung man sich da bemüht, unddurch die Erfahrung, dass mit steigender Kopfzahl der Haus-
haltung die blosse Nahrungsausgabe einen wachsenden Anteil am Gesamtaufwand beansprucht.
Anderseits sind die gesteigerten Kosten von Einfluss, die die Aufziehung der Kinder, die Führung des
Haushalts (namentlich eines grösseren Haushalts) bedingt angesichts der Teuerung, die in bezug auf
Lebenshaltung, Ausbildung, Wohnung, Dienstbotenhaltung usw. in den letzten Jahrzehnten ein-
getreten ist. Solche Erwägungen ergreifen bei der zunehmenden Industrialisierung und Verstadt-
lichung der Bevölkerung einen immer grösseren Volksteil. Was speziell die Wohnungsfrage betrifft,
so sind gerade die städtischen Wohnungsverhältnisse ein besonderes Moment für Kindereinschrän-
kung innerhalb der breiteren Volkssohichten. Je geringer die Einnahmen, um so höher ist erfahrungs-