Friedrich Zahn, Geburtenrückgang in Deutschland. 919
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ä "Wohnungsmiete. Darum müssendieärmeren Klassen an sich schon
bei den heutigen Verhältnissen einen bedeutenden Teil ihrer Einnahmen für die Wohnungsmiete
verwenden ; um so mehr scheuen sie die Kosten einer grösseren Wohnung, die eine zahlreiche Familie
benötigen würde, ganz abgesehen davon, dass die Auffindung einer solehen Wohnung vielfach den
kinderreichen Familien erschwert, zum Teil unmöglich gemacht wird.
Auch die erhöhte Beteiligung der Mädchen und Frauen am ausserhäuslichen Erwerbsleben
wirkt geburtenhemmend. Die Arbeit, welche junge Mädchen in den verschiedenen Betrieben zu
verrichten haben, meist einseitig, mechanisch, durch dauernd keit nerven-
angreifend, ist nur selten für die weitere physische und sonstige Entwicklung günstig. Viele Arbeiten
werden von Frauen übernommen, die für ihren Organismus ungeeignet sind, bei an sich geeigneter
Erwerbsarbeit nehmen die Frauen in der Regel zu wenig auf ihren Organismus Bedacht. Daher
äussert die ausserhäusliche Erwerbsarbeit so vielfach bedenkliche Rückwirkungen auf die Mutter-
schaftsleistungen. Entweder wird die Mutterschaft der Erwerbstätigkeit geopfert, oder die
Mutterschaft hat zu leiden während ihrer Entwicklung, während des Verlaufes der Geburt,
während der Zeit der an sich notwendigen Wöchnerinnenpflege. Infolgedessen so vielfach in den
Kreisen der erwerbstätigen Frauen Früh- und Fehlgeburten, Kinderlosigkeit, dauernde Erkran-
kungen! Kommen unter den erwähnten schwierigen Verhältnissen wirklich lebenskräftige Säug-
linge zur Welt, so hindert die ausserhäusliche Betätigung, die in der Regel Trennung von Mutter
und Kind bedingt, an der richtigen Pflege für das Kind, es mangelt vielfach die Stillung, soweit
überhaupt eine Stillfähigkeit bei geringer Pflege (schlechter Ernährun g) und Überanstrengung
der Mutter vorbanden ist. Weil aber mangelnde oder nur kurz dauernde Stillung nicht selten Säug-
lingssterblichkeit oder kümmerliche Entwicklung der Kinder im Gefolge hat, verzichtet nicht selten
die erwerbstätige Frau von vorneherein auf Mutterschaftsleistungen und sucht ihnen zuvorzu-
kommen.
Ebenso wirkt der jetzige Schulzwang, der Kinderschutz und die allgemeine Militär-Dienst-
pflicht in geburtenmindernder Richtung. Dadurch ist das Kind länger ein unproduktiver und
kürzer ein produktiver Faktor für die Familie.
Die erwähnten ökonomischen Ursachen machen es erklärlich, dass zwar auch auf dem Lande*)
ein Geburtenrückgang vorhanden ist, aber nicht so intensiv wie in der Stadt, obschon die zeugungs-
fähigen und die verheirateten Altersklassen auf dem Lande geringer vertreten sind. Allein die
Kinderaufzucht ist hier wesentlich leichter und lohnt sich wegen der Verwendbarkeit der heran-
wachsenden und herangewachsenen Kinder im eigenen (unter der Arbeiternot an sich leidenden)
landwirtschaftlichen Betrieb viel eher als dies vom Standpunkt städtischer und industrieller Haus-
haltungen aus der Fall ist. „Die Motive zur Erhöhung der Fruchtbarkeit sind‘ — wie Grassl
richtig bemerkt — „also bei den Bauern keineswegs edler oder anders als die Motive zur Ein-
schränkung der Kinderzahl bei den Städtern. Überall sind es egoistische, wirtschaftliche, das eine
Mal ein Luerum, das man erwartet, das andere Mal ein Damnum, das man verbütet‘“!
Damit ist bereits angedeutet, dass, wenn die eheliche Fruchtbarkeit nicht so stark bei der
katholischen als bei der evangelischen Konfession nachgelassen hat, dies weniger zu tun hat mit
der Konfession selbst als mit dem Standort, wo die katholische Bevölkerung sich in Deutschland
vorwiegend findet. Wie oben Seite 192 gezeigt, sind die Katholiken hauptsächlich in ländlichen
Erwerbszweigen (Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Bergbau, Stein-und Erdenindustrie, Baugewerbe)
vertreten, in ihnen ist die Fruchtbarkeit am grössten. Und weiter wirkt mit der starke, sich durch
grössere Fruchtbarkeit auszeichnende slavische Einschlag, den durch östliche Zuwanderung die
katholische Bevölkerung im letzten Jahrzehnt erhielt. Soweit die städtische und industrielle katho-
lische Bevölkerung in Betracht kommt, geht die eheliche Fruchtbarkeit fast in gleicher Weise
zurück wie bei der evangelischen, die vorwiegend in städtischen und industriellen Berufen sich
betätigt.
*) Nach der Untersuchung von L. Berger für Preussen zeichnen sich die Landwirtschafts- und die
Bergbaubevölkerung durch höchste Fruchtbarkeit aus. Geringer ist sie in der übrigen Industrie und vor allem im
Handel und Verkehr. Am niedrigsten stellt sie sich innerhalb des Beamtenstandes.