Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

  
Friedrich Zahn, Geburtenrückgang in Deutschland. 991 
Wie sich das Volk gegenüber anderen Völkern nicht bloss mit Qualitäten, sondern auch 
mit Quantitäten von Menschenmassen durchsetzt, so gilt dies ebenso für die einzelnen Schichten 
desselben Volkes. Will die einzelne Klasse sich nicht selbst ihrer bisherigen Macht begeben, so 
muss auch sie dem Geburtenrückgang in ihren Reihen entgegentreten. Deswegen ist die 
Drohung, die Einschränkung der Kinderzahl zu einer politischen Frage zu machen und den 
Gebärstreik als Mittel des proletarischen Befreiungskampfes zu propagieren, auch bei der Leitung 
der Sozialdemokratie nicht aufgenommen und weiter verfolgt worden. Ein solcher Gebär- 
streik hiesse nichts anderes, als durch Selbstvernichtung den Gegner schwächen zu wollen. Das 
Proletariat verdankt seinen derzeitigen Einfluss dem Umstand, dass es die Masse ist, und würde in 
demselben Grad den Einfluss verlieren, als es weniger Masse ist. 
Indessen, so beachtenswert die Erscheinung des Geburtenrückgangs aus den erwähnten 
Gründen ist, zu einer Panik, wie sie von übereifrigen, die Statistik nur oberflächlich prüfenden 
Literaten veranlasst wird, besteht für Deutschland noch kein Grund. ‚Würde der Kinderreichtum 
erlöschen, so ertrinken wir hoffnungslos in der Slavenflut und ersticken in unseren Bankdepots.“ 
„Wir sind im Begriff ein neues Jena zu erleben, wenn nichts geschieht.‘ Solche Kassandrarufe 
sind übertrieben und wenig ratsam. Durch übermässige Schwarzmalerei der möglichen, aber nicht 
notwendigen Folgen der jüngsten Entwicklung reizen wir nur den Mutwillen derer, die unser Wachs- 
tum scheel ansehen, und schwächen das Selbstvertrauen in die eigene nationale Kraft. 
Am wenigsten haben wir die Minderung der Geburtenzahl dort zu bedauern, wo hohe Ge- 
burtenhäufigkeit bisher von hoher Säuglingssterblichkeit begleitet war. So hatten wir bis vor 
wenigen Jahren in Deutschland Bezirke, in denen zwar sehr hohe Fruchtbarkeit vorhanden, aber 
deren bevölkerungsmehrender Effekt nicht grösser, zum Teil geringer war als in Bezirken mit 
niederer Fruchtbarkeit, weil von den Geborenen über 40 % innerhalb des ersten Lebensjahres 
wieder wegstarben. Nach dem Zeugnis von Graf Witte kommt in Russland noch heute fast die 
Hälfte aller geborenen Kinder nicht ins 5. Lebensjahr; ähnlich war es bis vor kurzem auch in einer 
Reihe deutscher Bezirke. Die vorzeitig hinweggerafften Kinder (unter denen sich keineswegs bloss 
Schwächlinge und Kümmerer, sondern an sich lebenskräftige Elemente finden, da nachgewiesener- 
massen bei der Säuglingssterblichkeit keine Auslese gegenüber schwächeren Konstitutionen, kein 
Überleben der Tauglichsten stattfindet) sind, statt bleibende Einnahmen im Volkshaushalt, nicht 
einmal durchlaufende Posten, sondern unmittelbare Schädigungen unserer volklichen, ethischen 
und wirtschaftlichen Kraft. Die auf sie gemachten Aufwendungen gehen unserer Volkswirtschaft 
fast ganz verloren. Die vielen und rasch aufeinander folgenden Geburten bewirken häufig Gebär- 
mutterverlagerungen mit allen daran haftenden Beschwerden, frühzeitiges Verblühen und Krank- 
heit der Mutter, und sind neben schlechter Ernährung und 'ungenügender Pflege mit schuld, dass 
die wirklich aufkommenden Kinder vielfach nicht zu richtiger Vollwertigkeit gelangen. Diese 
bleiben inihrer körperlichen und geistigen Entwicklung vielfach zurück und zeigen u.a.auch ungünstige 
Militärtauglichkeit. Unter solchen Umständen ist hobe Fruchtbarkeit nichts weniger als vorbild- 
lich. Sie bedeutet Verschwendung von Volkskraft und wirtschaftlichen Werten, bedeutet Raub- 
bau am Volkskörper. 
Das bestätigt namentlich die bayerische Statistik. Sie zeigt, dass Bezirke mit hoher 
Geburtenhäufigkeit, also einem grossen Brutto-Aufwand an regenerativer Kraft, vielfach 
einen geringeren Aufwuchs, ein geringeres oder kein grösseres Netto-Ergebnis erzielen als 
Bezirke mit mittlerer Fruchtbarkeit. Beispielsweise wurde für den Regierungsbezi.k Nieder- 
bayern im Durchschnitt des Jahrfünfts 1908/12 eine Fruchtbarkeitsziffer von 162 °/9 (d. h. 
162 Geborene jährlich auf je 1000 gebärfähige Frauen) festgestellt, für die Rheinpfalz da- 
gegen eine solche von 135 °/,,; mithin beträgt die Spannung zu gunsten Niederbayerns 
27°. Wartet man aber den bevölkerungsmehrenden Erfolg, das Neıto-Ergebnis, dieser so 
verschiedenen Fruchtbarkeitsziffern nur ein Jahr ab, so berechnet sich für die Pfalz ein 
Aufwuchs an einjährigen Kindern von 111 %, (= pro 1000 gebärfähige Frauen), für 
Niederbayern ein solcher von 115°. Die Spannun; von ursprünglich 27°), hat sich 
also bereits nach einem Jahr auf 4°/,, erniedrigt. Nach einem weiteren Jahr beträgt sie 
nur mehr 2/,., indem die Aufwuchsziffer für zweijährige Kinder sich in der Pfalz auf
	        
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