933 C.J. Fuchs, Die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Wirtschaftspolitik.
grossen Bauerngüter im Nordwesten und Südosten und ein Gebiet der Mittel- und Klein-
bauerngüter in Mitteldeutschland und im Südwesten. Es handelt sich dabei
keineswegs nur um Grössenunterschiede, sondern im letzteren ist-Freiteilbarkeit mehr oder weniger
vorherrschend, in den beiden anderen dagegen das System der geschlossenen, ungeteilten Ver-
erbung der Höfe an einen Erben, das „Anerbensystem“.
Auch diese weiteren Unterschiede, ebenso wie der erste, sind Produkte der geschichtlichen
Entwicklung. Allerdings sind sie nicht so alt wie jener, der tatsächlich bis auf das 9. Jahrhundert
zurückgeht. Denn die Grenze zwischen Ost- und Westelbien im oben gekennzeichneten Sinn ist
die alte Slavengrenze, und was östlich davon liegt, ist Kolonisationsland mit einer um tausend
Jahre jüngeren deutschen Geschichte. Im älteren westlichen Teil aber bestand ursprünglich eine ein-
heitliche gleiche Agrarverfassung, die der „älteren Grundherrschaft‘“, mitderVillications-
verfassung. Zu einem Herrenbof mit mässigem Eigenland (terra salica) gehörten mehr oder
weniger zahlreiche Bauernhöfe, deren Bewohner persönlich unfrei, „hörig‘, waren und dem Grund-
herrn Geld- oder Naturalabgaben, auch z. T. Dienste, für die erbliche Nutzung ihrer Bauernstelle
leisten mussten. Solche hörige Lathufen hatten die kleineren Grundherrschaften 20 bis 30, die
grösseren, namentlich geistlichen, in die Hunderte und Tausende, von denen dann immer eine
Anzahl eine Villcation mit einem Frohnhof als wirtschaftlichem Mittelpunkt bildeten, auf dem
der Verwalter oder Meier‘ sass. Diese älteren Grundherrschaften waren aber sog. „Streubesitz“,
d.h. sie bildeten keine geographisch abgeschlossenen Gebiete, und die Bauernhöfe eines Dorfes
gehörten nicht alle zu einer Grundherrschaft, sondern in der Regel zu verschiedenen. Die Bauern-
stellen selbst aber waren klein und unteilbar.
In diese gleichartige Verfassung des älteren westlichen Deutschlandskam nun im 12. und 13.
Jahrhundert eine Gliederung, welche bis heute fortdauert, durch de Aufhebung der Villi-
cationen in Niedersachsen und eine ähnliche Entwicklung in Westfalen. Um
seine mit dem Eindringen der Geldwirtschaft im Anschluss an die Kreuzzüge gestiegenen Bedürfnisse
durch Erhöhung seines Einkommens zu steigern, löste der niedersächsische Grundherr die bisherige
Verfassung bei welcher der Verwalter sich auf seine Kosten bereichert hatte, auf: er liess die hörigen
Bauern frei, wodurch ihre Höfe an ihn zurückfielen, vereinigte in der Regel je vier dieser bisherigen
Bauernstellen zu einer neuen grossen und „vermeierte‘ diese d. h. verpachtete sie auf Zeit — so, wie
er es zuvor mit der ganzen Villication dem Verwalter gegenüber, allerdings nicht mit befriedigendem
Erfolg, getan hatte — an einen der freigelassenen Bauern, sodass er nach Ablauf weniger Jahre
die Pacht erhöhen konnte, also das Steigen der „Grundrente‘“ ihm zugut kam. Die anderen drei
Viertel der freigelassenen Bauern sanken teils in eine niedrigere Klasse der ländlichen Bevölkerung,
die „Häusler“ oder „Brinksitzer“, herab, teils zogen sie in die zahlreichen, damals gegründeten
Städte, teils endlich über die Elbe ins Slavenland und lieferten so das Menschenmaterial für die
Kolonisation des Ostens,
Der zurückgebliebenen bäuerlichen ‚Meier‘, d. h. Zeitpächter, aber nahm sich hier pald der
moderne Staat an, der in den fraglichen Territorien sich kräftig entwickelte und ein leb-
haftes finanzielles Interesse an der wirtschaftlichen Lage des Bauern, seines vornehmsten Steuer-
zahlers, gewann. Infolgedessen verbot er schon im 16. Jahrhundert die Erhöhung des Meier-
zinses und konnte dann unschwer das Meierrecht zu einem erblichen Rechte machen, auch sorgte
erin der Folge für die Aufrechterhaltung der Geschlossenheit des Bauernguts und übte im nach-
maligen Königreich Hannover bis zur Einverleibung in Preussen eine „öffentliche Grundherrschaft“
auch über die Bauern der privaten Grundberrschaften aus. DieBauernbefreiung, welchedie
Bauern schon persönlich frei vorfand, hatte daher hier im wesentlichen nur das erbliche, im 18. und
19. Jahrhundert auch als dinglich anerkannte Meierrecht in Eigentum zu verwandeln und zu diesem
Zweck vor allem Ablösung des Meierzinses, der anderen Abgaben und der Dienste zu ermöglichen.
Dies geschab, nach einer vorübergehenden ersten gewaltsamen Einführung in der Franzosenzeit,
endgiltig unter dem Druck der Julirevolution in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Aber
jene öffentliche Grundherrschaft und das besondere bäuerliche Privatrecht, insbes. das „Anerben-
recht“, blieben bestehen, bis das Land preussisch wurde, und sie in den 70er Jahren durch die
fakultative Einrichtung der ‚„Höferolle‘' ersetzt wurden. So ist Hannover ein Grossbauernland