Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

C.J. Fuchs, Die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Wirtschaftspolitik. 235 
  
welche durch Befreiung der wirtschaftlichen Kräfte die Wi. derherstellung des preussischen Staates 
erreichen und die von der französischen Revolution gewaltsam durchgesetzten Reformen von oben 
her seitens des Königtums friedlich verwirklichen wollte. Es ist seit. dem grossen Werke Knapps 
bekannt, dass dies auf dem Gebiete der Agrarpolitik nur zum Teil gelungen ist, und grosse sozial- 
politische Fehler dabei gemacht wurden. Dazu gehört nicht nur die Durchbree ‘hung, welche der 
Bauernschutz. im Anschluss an die Aufhebung der Erbuntertänigkeit im Jahre 1807, 
in gewissem Masse erfuhr, sondern vor allem die Einschränkung des Hauptteils der Bauernbefreiung 
bei den privaten, im „gutsherrlich bäuerlichen Verhältnis“ stehenden Bauern — der Aufhebung der 
Frohndienste und Verwandlung des t htes in Eigentum der sog. „Regulierung‘', 
— durch die Deklaration von 1816 zum Regulierungsedikt von 1811 und die Aufhebung des Bauern- 
schutzes zugleich mit der Regulierung, und zwar für alle Bauern, sowohl die der Regulierung unter- 
worfenen, als die von ihr nachträglich ausgenommenen, d.h. in der Hauptsache diekleinen, 
nicht „spannfähigen‘“ Bauern. Nicht, dass letztere von der Regulierung ausgenommen wurden, und 
ihre Dienste zunächst dem bisherigen Gutsherren erhalten blieben, war der grösse Fehler, denn dies 
war notwendig, sollten die damals unzweifelhaft den technischen Fortschritt repräsentierenden 
und auch aus politischen Gründen nicht entbehrlichen Grossbetriebe weiterbestehen, sondern, dass 
nicht wenigstens für sie der Bauernschutz bestehen blieb. Infolgedessen wurden sie bis zur Wiederaus- 
dehnung der Regulierung auf sie im Jahre 1850 zum grössten Teil gelegt und in besitzlose Land- 
arbeiter auf den grossen Gütern — die Insten, Gutstaglöhner oder Katenleute — verwandelt. 
Andererseits aber führte das sofortige Aufhören des Bauernschutzes auch bei den regulierten Bauern 
weiterhin noch in erheblichem Umfange zur Aufsaugung von Bauernstellen durch den Grossbetrieb, 
jetzt allerdings auf dem Wege desKaufs. Zugleich aber erfolgte bei der Regulierung die Entschädigung 
des Gutsherrn auch nicht in Geld, sondern in Land, d.h. der Bauer mit ‚„lassitischem Besitz- 
recht‘ erhielt nur zwei Drittel, wenn es erblich war, und nur die Hälfte, wenn es unerblich war, des 
bisher von ihm benutzten Landes zu freiem Eigentum, der andere Teil ward mit dem Gutslande 
vereinigt. 
So führte also die Bauernbefreiung im Nordosten keineswegs zu einer Rückgängig- 
machung der Entwicklung, welche die ritterlichen Grossbetriebe zum grossen Teil aus ehemaligen 
Bauernstellen hatte entstehen lassen, sie führte zu keiner Vermehrung der Bauernstellen und nament- 
lich nicht des Bauernlandes — im Gegenteil zu einer weiteren Verminderung. Und so ging diese 
Konzentrationsbewegung hier weiter bis zur Neuzeit und führte zu dem gewaltigen Überwiegen 
des Grossgrundbesitzes im Nordosten, das heute — abgesehen von den hier 
nicht zu erörternden politischen Wirkungen — für die Volkswirtschaft Preussens und damit des 
Deutschen Reiches eine so fundamentale Bedeutung hat. Auf dieser geschichtlich entstandenen 
Agrarverfassung beruht das Übergewicht, weiches der Grossgrundbesitz noch heute in Preussen 
hat, die Bedeutung und Macht der agrarischen Bewegung in Deutschland, die Höhe des durch sie 
herbeigeführten Zollschutzes, die ländliche Arbeiterfrage des Nordostens und die Entvölkerung 
des Landes durch die „Flucht vom Lande‘ mit allen ihren nachteiligen Folgen für die sozialen 
Probleme, nicht nur auf dem Lande selbst, sondern auch in den Städten und in der Industrie. 
Auf die Folgen, welche sich daraus für die moderne deutsche und speziell preussische Agrarpolitik 
ergeben, wird am Schluss zurückzukon.men sein. 
nl. 
Auch die gewerbliche Entwicklung in Deutschland hängt von Anfang an mit dieser 
agrargeschichtlichen aufs Engste zusammen. Denn der im ersten Abschnitt geschilderte Frohn- 
hof war zweifellos wenigstens in technischer Beziehung die Wiege der Entwicklung der einzelnen 
Gewerbe, wenn auch nicht, wie man früher angenommen hat, in wirtschaftlicher und sozialer 
Hinsicht gerade des Handwerks und der Zünfte in den Städten. Ist die Frage nach 
ihrer Herkunft und Entwicklung noch immer viel umstritten, so haben wir dafür ein klares Bild 
von ihrer Organisation und Wirksamkeit zur Zeit ihrer vollen Ausbildung. Sie bildeten damals 
unzweifelhaft eine ‚Konkurrenzregulierung“, die bei dem starken Einströmen der Bevölkerung in 
die Städte notwendig geworden war und die gewerbliche Tätigkeit aus einer ‚freien Kunst“ in ein
	        
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