244 Martin Weigert, Schutzzoll und Freihandel.
ein starres Hochschutzzollsystem beschränkt bis endlich Napoleon III. durch den Handelsvertraz
mit England 1860 eine Tarifreform durchsetzte. Während unter der Republ ik die schutzzöllnerischen
Tendenzen wieder die Oberhand gewannen, blieben die Vertreter der Wissenschaft, von denen
namentlich P. Leroy-Beaulieu und die Herausgeber des „Journal des Economistes“ Molinari und
Yves Guyot zu nennen sind, den Grundsätzen der Freihandelsschule treu.
ec) In Deutschland standen die wissenschaftlichen Vertreter der Volkswirtschafts-
lehre in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie Kraus, E. Lotz, Rau, Herrmann, Roscher meistens
auf den Boden der Smith’schen Lehre, ohne indessen den Freihandel zu dem eigentlichen ent-
scheidenden Schulprinzip zu machen. Als in den 50er Jahren durch die aufsehenerregende List’sche
Theorie der Schutz- resp. Erziehungszölle der Streit der Meinungen um die handelspolitischenGrund-
sätze heftiger entbrannte, bildete sich auch in Deutschland eine Freihandelsschule, die hauptsäch-
lich aus Publizisten und Politikern bestand. Zu diesen gehörten Männer, wie Prince Smith, Michaelis,
K. Braun, Max Will, L. Bamberger, Böhmert, Emminghaus, Soetbeer, Max Wirth u. a. Auch Ab-
handlungen von Wappäus, Otto Hübner, Schmidlin bekämpften den Schutzzoll. Seit 1854 fand die
Richtung im Bremer Handelsblatt zuerst unter dem Redakteur Klauhold ein einflussreiches
periodisches Organ. Seit 1856 erschien in Heidelberg die von Böhmert begründete „Germania“, die
dann auf Pickford überging und unter ihm noch strenger freihändlerischen Charakter annahm. Eine
ganz Deutschland umspannende Organisation erhielt dann die erstarkte Partei in dem „volkswirt-
schaftlichen Kongress‘, der sich zum ersten Male 1858 in Gotha vereinigte, von da an alljährlich ab-
wechselnd inden hiedenstenStädt trat und unter der Führung von Karl Braun, Präsi-
dent Lette und später Prince Smith mit seinen Verhandlungen und Beschlüssen in den gewerblichen
Kreisen, sowie bei den Staatsregierungen grosse Beachtung fand. Der 1861 begründete deutsche
Handelstag und auch die Landwirtschaft unterstützte bis in die zweite Hälfte der 70. Jahre hinein
die Bestrebungen des Kongresses, um dann jedoch in das schutzzöllnerische Lager mehr und mehr
überzugehen. Die 1863 von Julius Faucher begründete Zeitschrift „Vierteljahresschrift für Volks-
wirtschaft und Kulturgeschichte‘ enthält wissenschaftlich bedeutende Beiträge der obengenannten
begabtesten Anhänger der Freihandelslehre. Auch das im Jahre 1866 von Rentsch herausgegebene
Handwörterbuch der Volkswirtschaftslehre ist von einer Anzahl namhafter Freihändler verfasst
und vertritt ihren Standpunkt. — Grossen Abbruch tat der Schule seit dem Antrag der 70er Jahre
ihre einseitig freihändlerische Stellungnahme zu der Arbeiterfrage, die teilweise so weit ging in Ab-
rede zu stellen, dass es überhaupt einen besonderen Arbeiterstand gebe, und es für undenkbar hielt,
dass dessen Interessen erheblich von denen anderer Klassen abweichen könnten. Sie fusste auf der
Bastiat’schen Harmonielebre und hielt ein staatliches Eingreifen zum Schutze der wirtschaftlich
Schwachen nicht für angebracht, als infolge der jungen grossindustriellen Entwickelung mit ihren
anfangs noch unbehobenen sozialen Schädigungen die Arbeiterbewegung bereits in vollem Gange war.
Angesichts der Gestaltung der sozialen Verhältnisse wuchs denn auch von Jahr zu Jahr der Zweifel,
ob die so bequeme Lösung des „laissez faire, laissez passer“ allen wirtschaftlichen Problemen gerecht
werden könne und liess die Freihändler schliesslich einen grossen Teil der Autorität einbüssen, die
sie bis gegen Ende der 70er Jahre bei den Massen, sowie in den akademischen Kreisen besessen hat.
Während die Arbeiterschaft in die Gefolgschaft der von Marx, Lasalle, F. A. Lange und Rodertus
entwickelten Grundanschauungen trat und sich den Dogmen des Sozialismus zuwandte, vereinigte
sich eine Anzahl hervorragender Universitätslehrer (die Kathedersozialisten) im Verein für Sozial-
politik, der mit vollem Erfolge die geistige Führung in der sozialpolitischen Reformbewegung über-
nahm. Auch hinsichtlich der Handelspolitik haben sich in den letzten 35 Jahren die Anschauungen
der Nationalökonomen erheblich gewandelt: Zum Teil hat die Schutzzolltheorie wieder Anhänger
gefunden. Gelehrte wie Oldenberg traten für die Autarkie, die Unabhängigkeit der Volkswirtschaft
vom Auslande, ein. Adolf Wagner, Pohle, v. Mayr fordern eine Begünstigung der ihrer Meinung
nach wichtigeren Land wirtschaft vor der Industrie. Bei wieder anderen hervorragenden Universitäts-
lebrern, wie z. B. bei Schmoller und seinen Schülern, herrscht die Ansicht vor, dass die Frage, ob
Freihandel oder Schutzzoll nicht nach einem prinzipiellen Axiom, sondern nach den gegebenen kon-
kreten Umständen mit Rücksicht auf das allgemeine Wohl, nicht aber mit Konivenz gegen ein-
keitige Interessen zu entscheiden sci. Doch besitzt auch heute noch die wissenschaftliche Freihandels-