Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

246 Martin Weigert, Schutzzoll und Freihandel. 
8. Die Lehren Friedrich Lists. 
In der nationalökonomischen Wissenschaft machte sich schon in der ersten Hälfte des 
19. Jahrhunderts eine Kritik, und, wie erwähnt, zum Teil auch eine Opposition gegen die Extreme 
bezw. Einseitigkeiten des Smith’schen Systems bemerkbar. Der Oesterreicher Adam Müller suchte 
in seiner Schrift „Vorlesungen über die Elemente der Staatskunst‘‘ darzulegen, dass die Smith- 
sche Lehre für einen Handelsstaat mit mehr -tädtischem Charakter, wie England, passe, während 
der kontinentale Staat, dessen Grundlage zurzeit noch die Landwirtschaft bilde, andere Bedürfnisse 
habe. Die gleichen Anschauungen vertrat von Haller, der jedoch mit seinen Forderungen wieder in 
dem Boden des extremen Merkantilismus wurzelte. — Hoch über den Darlegungen dieser beiden 
Männer steht hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Begründung die Kritik, die Friedrich List 
der Smith’schen Lehre angedeihen liess. Auch er trat dem Smith’schen Kosmopolitismus entgegen 
und verlangte im Angesicht des zersplitterten und geschwächten Vaterlandes den Ausbau der ein- 
zelnen Nationen zu selbständigen Organismen, mit eigener Geschichte und besonderer Eigentüm- 
lichkeit. Daher bezeichnet er auch sein 1841 erschienenes Hauptwerk als „Das nationale System 
der politischen Oekonomie“. Er entfernt sich dadurch von Adam Smith, dass er dem Staat andere 
wirtschaftliche Aufgaben stellt. Hatte Smith den Wohlstand hauptsächlich in den Befriedigungs- 
mitteln gesehen, so List in den Produktionskräften des Landes, die allseitig zu entfalten und 
in ihrer nachhaltigen Leistungsfähigkeit zu erhalten die Aufgabe des Staates sei. Auch er 
hat den Eindruck, dass die Smith’sche Lehre hauptsächlich auf die industriestaatlichen Ver- 
hältnisse England’s zugeschnitten und auf englischem Boden erwachsen sei, aber er sieht 
sie auch für verwertbar an, um zu beurteilen, wie die Volkswirtschaft des Kontinents ent- 
wickelt werden müsse, um die englische Vorherrschaft zu brechen. Seinem System legt er 
die Auffassung zugrunde, dass sich die Entwickelung der Volkswirtschaft überall in gleicher 
Weise vollzieht, und zwar in 4 Hauptstufen: Die erste Stufe ist das Jäger- und Hirtenleben, 
die zweite der Agrarstaat, die dritte der Agrar-Manufakturstaat, die vierte der Agrar-Manufaktur 
und Handelsstaat. Jede bedeutende Nation müsse danach streben auf die letzte und höchste Ent- 
wickelungsstufe zu gelangen, auf der sich — nach List’s damals zutreffender Ansicht — nur Eng- 
land befand. Deutschland, ebenso wie die Vereinigten Staaten und Frankreich sah er noch in der 
vorletzten, Spanien und Italien noch in der Ackerbauperiode stehen. List untersucht nun, wie vor 
allem Deutschland sich auf die höchste Stufe emporschwingen könnte. Der Staatsgewalt weist er die 
Aufgabe zu, den Gewerbetreibenden bei dem schwierigen Uebergang behilflich zu sein. Das zweck- 
mässigste Hilfsmittel hierfür sieht er in einem mässigen Zollsystem, welches die aufkeimenden In- 
dustrien gegen die übermässige Konkurrenz schützen soll. Erst wenn die Nation die letzte Stufe, auf 
der sich nur England befindet, erreicht hat und keinen überlegenen Gegner zu fürchten braucht, sei 
als Endziel der Freihandel gerechtfertigt. Der Schutzzoll ist also, seiner Ansicht nach, nur als Er- 
zichungsmittel anzusehen, das der Volkswirtschaft zu einer höheren Stufe der Entwickelung verhelfen 
und mit der Erreichung dieses Zieles wieder wegfallen soll. Die günstigste Wirkung versprach er sich 
von dem Schutzzoll auf fertige Fabrikate, während er sich als Gegner der Getreidezölle bekennt. Die 
Schutzzölle hält er für um so wirksamer, je grösser das von ihnen umschlossene Territorium ist, und 
je manigfaltiger sich die Produktionsverhältnisse und die Produktionszweige innerhalb dieses ge- 
schützten Kreises gestalten; nur dort können sie sich richtig ergänzen und alle natürlichen Hilts- 
quellen des Landes zur Verwertung bringen. Aufgabe jeder Volkswirtschaft ist es, den Bedarf der 
Nation, soweit als möglich, mit Gütern der eigenen Produktion zu decken, weil die Steigerung der 
Produktivkräfte eine Vorbedingung jedes materiellen und kulturellen Fortschrittes ist. Bei der viel- 
fachen natürlichen, technischen und sozialen Differenzierung der Produktionsverhältnisse in den 
einzelnen Ländern könne eine solche Steigerung nur durch den „Schutz der nationalen Arbeit“ 
bewirkt werden. Die Höhe des Schutzzolles ergibt sich aus seiner Aufgabe, diejenigen Nachteile 
auszugleichen, in denen sich die Produktion der Heimat infolge natürlicher Verhältnisse (geringere 
Fruchtbarkeit, Mangel an wichtigen Rohstoffen etc.) gegenüber der ausländischen Konkurrenz be- 
findet. Ferner begründet höhere technische Entwickelung in den industriellen Methoden häufig 
eine Ucberlegenheit des Auslandes, doch wird in dieser Hinsicht Vorsicht am Platze sein, um den 
Schutzzoll nicht zu einer Prämie für technische Stagnation zu machen. Endlich spielen auch die
	        
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