248 Martin Weigert, Schutzzoll und Freihandel.
verse ,„Industrie- oderAgrarstaat“. Damit ist das Thema zwar etwas verschoben
worden, doch hat seine Behandlung eine grössere wissenschaftliche und aktuellere praktische Be-
deutung erhalten. Oldenberg hat zuerst in umfassender Weise an Hand der Statistik der deutschen
Berufszählungen die Frage aufgeworfen, ob es richtig sei, dass die grossen Kulturstaaten sich heute
in die Bahnen des überwiegenden Industriestaates stürzen, die England seit 1840, Deutschland
neuerdings verfolge. Er weist auf die rasch wachsende Bevölkerung der genannten Staaten hin,
die immer mehr auf die Zufuhr auswärtiger Nahrungsmittel angewiesen seien und dadurch in steigen-
dem Masse der Gefahr näher gerückt würden bei ungünstigen politischen Konstellationen, ausge-
hungert zu werden. Es müsse ferner damit gerechnet werden, dass die Nahrungsmittelstasten über
kurz oder lang einmal keinen Nahrungsüberschuss mehr haben, sich bald auch nicht mehr in Fabri-
katen bezahlen lassen würden. Früher seien sie als Schuldnerstaaten in Abhängigkeit von den
kapitalstarken, industriellen Gläubigerstaaten gewesen. Dieses Verhältnis werde sich mit der Zeis
umkehren; unter Umständen würden die Agrarstaaten ihre Schulden gegen die Industriestaaten
kassieren, zuletzt sie mit Abhängigkeit und Ruin bedrohen. Darum müssten Staaten wie Deutsch-
land, ehe es dafür zu spät sei, der industriestastlichen Entwickelung einen Riegel vorschieben, ihre
Landwirtschaft schützen und ausdehnen und die übermässige Steigerung ihrer Exportindustrien
Mass hemmen. — Diese Gedanken fanden bei A. Wagner, Pohle, P. Voigt, Ballot u. a. teils modifi-
zierte Zustimmung, teils weitere Ausführung. Die praktische Folgerung, die Oldenberg übrigens
ganz zurückgestellt hatte, war in der Hauptsache die Forderung ausgiebiger, ja hoher Schutzzölle
für land wirtschaftliche Produkte, Hemmung der starken Industriezunahme und des Arbeitsabflusses
nach den Städten bezw. Industriezentren. — Brentano, Dietzel, Huber, Helfferich, Alfred Weber,
Fr. Naumann traten der Tatsachenschilderung wie den Folgerungen entgegen. Sie suchten dar-
zulegen, dass die angeführten Gefahren nicht bestünden, dass in den nächsten Generationen die
Industriestaaten Nahrungsmittel in beliebigen Quantitäten ohne Schwierigkeit aus dem Auslande
beziehen könnten und dort auch Absatzmärkte für ihre Fabrikate finden würden, Ferner betonten
sie, dass eine möglichste Steigerung der internationalen Arbeitsteilung nach der Richtung „Brod
gegen Fabrikate‘‘ den nationalen Reichtum der einzelnen Staaten am besten fördere und keine ein-
seitige, sondern nur stets eine gegenseitige Abhängigkeit hervorbringe. — Der Streit „Industrie oder
Agrarstaat“ hat zweifellos nach vielen Seiten hin aufklärend gewirkt und hat schliesslich auch die
Parteien unter Verzichtleistung auf ihre extremen Forderungen in mancher Hinsicht einander näher
gebracht. Jedenfalls kann sich theoretisch keine von den beiden den Sieg allein zuschreiben, denn
es handelt sich bei diesem Streit letzten Endes doch um Zukunftsmöglichkeiten, um Entwickelungs-
tendenzen, die in jedem Staate durch politische und wirtschaftliche Ursachen aller Art verschieden
beeinflusst werden können. In Hinblick auf die moderne handelspolitische Entwickelung kann man
Schmoller zustimmen, der bei seiner objektiven, historisch deduktiven Behandlung des „Agrar-
und Industriestaat-Problems‘ zu dem Ergebnis kommt, dass für die Sicherstellung der Ernährung
der dicht bevölkerten Industriestaaten in näherer Zukunft die Schutzzölle eine weniger wichtige
Rolle spielen dürften, als die Zollunionen, der Imperialismus und das Verhältnis des Mutterstaates
zu den Kolonien. — °
11. Die moderne Schutzzollpolitik a) in Deutschland, b) in Frankreich, ce) in Russland,
d) in Oesterreich-Ungarn, e) in den Vereinigten Staaten.
a) In dem jungen deutschen Reiche führte die schwere wirtschaftliche Depres-
sion, die 1873 einsetzte und fast ein halbes Jahrzehnt anbielt, dazu, dass weitere gewerbliche Kreise
mit der freihändlerischen Handelspolitik unzufrieden zu werden begannen. Die Gegenmächte
organisierten sich: 1876 entstand der Zentralverband deutscher Industrieller, in dem die schutz-
zöllnerischen Spinner und grossen Eisenhüttenleute vorherrschten. Der Rückgang des deutschen
Lebensmittelexportes nach England und die fremde Getreidekonkurrenz machte die Mehrzahl
der Agrarier zu Schutzzöllnern. — Das Nationalgefühl belebte und stärkte sich gewaltig; man
wollte sich auch handelspolitisch vom Auslande nicht mehr so gängeln lassen wie in den Tagen des
Zollvereins. Diese Stimmungen und Auffassungen griffen schliesstich auch auf die Reichsregierung
über. Bei Bismarck führte die Missstimmung über die handelspolitischen Uebergriffe und Ver-