Martin Weigert, Schutzzoll und Freihandel. 349
stösse Österreichs, Frankreichs, Russlands zunächst zum Wunsche nach gewissen Handhaben
der Retorsion, doch schlug zunächst der Reichstag kurzsichtigerweise einen Gesetzentwurf über
Ausgleichsabgaben, sowie die Vertagung der Eisenzollaufhebung ab. Der Rücktritt Delbrücks
(1876), des überzeugtesten Freihändlers in der Regierung, der Bismarc knötigte, seine Aufmerksam-
keit mehr als bisher der Handels- und Finanzpolitik zuzuwenden, sodann die für die deutsche
Eisenindustrie nahezu verhängnisvolle Aufhebung der Eisenzölle, und endlich ein neuer Reichs-
tag, in welchem die Schutzzöllner sehr verstärkt waren, brachten es nach und nach dahin,
dass Bismarck aus einem Retorsions- zu einem Schutzzöllner wurde. Die Umkehr von der frei-
händlerischen Richtung erfolgte dann schliesslich durch den Zolltarif von 1879, der, trotz seiner
Neigung zu allgemeiner Zollpflicht, keine Zölle auf die Rohstoffe Baumwolle, Flachs, Hanf, Wolle,
Kohle, Häute, und nur sehr geringe Getreidezölle (1 Mk. für 100 kg Weizen und Roggen), mässige
Viehzölle, einen Roheisenzoll von Mk. 1, etwas höhere Zölle auf Eisenhalbfabrikate, Zölle von
Mk. 7,50 bis Mk. 15 auf Eisenwaren etc. enthielt. Wenn auch die Freihändler, und noch mehr das
Ausland, diese Veränderung der deutschen Handelspolitik heftig befehdeten, so war sie doch
das Richtige: Sie sicherte der deutschen Produktion den damals bedrohten inneren Markt; sie hob
die deutschen Zolleinnahmen (1877—1890) von 103 auf 357 Mill. Mk. und hat, wie Schmoller
treffend sagt, „eine günstige, erziehende, kompensierende, Krisen mildernde Wirkung gehabt”. —
In dem nächsten Jahrzehnt wurde der Zollschutz für Industrie und Landwirtschaft weiter ausgebaut,
besonders durch die Tarifreformen von 1885 und 1887, die z. T. Antworten auf die österreich-ungari-
schen und russischen Erhöhungen waren. Die hohen Zollsätze wurden in der Folgezeit durch Handels-
verträge ermässigt. Eine grössere Spezialisierung der Industriezölle, und eine weitere Verschärfung
des Agrarschutzes durch Einstellung von Minimalsätzen für Getreide brachte endlich der Zolltarif
vom 25. Dezember 1902. Obwohl dieser Tarif gegen die Obstruktion der Sozialdemokratie und der
freis. Vereinigung nur in der verschlechterten und gesteigerten Form der Kommission, nicht
in der der Regierung zustande kam, gelang es immerhin der geschickten diplomatischen Tätig-
keit der Reichsregierung auch mit diesem Zolltarif im ganzen günstige Handelsverträge, und
damit einen in der Hauptsache nicht zu hohen Vertragstarif zustande zu bringen. Obwohl
auch heute gewisse Interessentenkreise die befriedigende Wirkung dieser Handelsverträge lebhaft
bestreiten, kann doch die Tatsache nicht abgeleugnet werden, dass unter ihrer Geltung der
deutsche Aussenhandel sich von Jahr zu Jahr in sehr betächtlichem Masse gehoben hat. —
b) Frankreich erhöhte nach dem deutsch-französischen Kriege zunächst die Finanz-
zölle. Durch Gesetz vom 26. Juli 1872 wurden sogar Rohstoffzölle eingeführt, die aber 1874 wieder
beseitigt wurden. Unter der Präsidentenschaft von Mac Mahon (1873—1879) hatte die Regierung
keinen festen Standpunkt. Man machte Russland 1874, Spanien 1877 aufdem Vertragswege Konzes-
sionen, suchte die Handelsabkommen mit anderen Staaten zu verlängern. Die entscheidende Wen-
dung zum Schutzzollsystem machte Frankreich durch das Zollgesetz vom 7. Mai 1881, das einen
Generaltarif für die Staaten ohne Vertrag statuierte, der 24% im Durchschnitt höher war als der
bisherige Vertragstarif. Die Sätze für Industrieprodukte und Eisen waren z. T. nicht unbeträchtlich
höher als die im deutschen Tarif von 1879. Eine neue Kette von Meistbegünstigungs- und Tarif-
verträgen mit Belgien, Italien, Portugal, Schweden, Norwegen, Spanien, Schweiz und Österreich
knüpfte sich an das Zollgesetz an. England behielt seine Meistbegünstigung durch ein besonderes
französisches Gesetz, Deutschland infolge des Friedensvertrages von 1871. Durch zwei Gesetze in den
Jahren 1885 und 1887 wurden die Getreide- und Viehzölle, die seit 1861 auf einer mässigen Höhe
geblieben waren, erhöht. Nach dem Abgang Tirards erstrebte man in Frankreich die Beseitigung
des ganzen Vertragssystems, sowie die Herstellung eines Maximal- und Minimaltarifs. Die ein-
schlägigen Bestrebungen hatten schliesslich Erfolg: Das Zollgesetz vom 1. Januar 1892 brachte einen
schutzzöllnerischen Maximaltarif für die Staaten ohne, einen Minimaltarif für die Staaten mit
Handelsakbommen; Handelsverträge sollten nicht mehr geschlossen werden, sondern nur Handels-
abkommen über Annahme oder Ablehnung des Minimaltarifs. Der letztere wurde etwa 40%, der
Maximaltarif ca. 60%, gegen den bisherigen Tarif erhöht. Der hochschutzzöllnerische Tarif von 1892
hat wohl den französischen Aussenhandel nicht gerade gelähmt, aber ihn — wie die Statistik des
französischen Aussenhandels zeigt, — auch nicht gehoben. Durch ein neues hochschutzzöllnerisches