Martin Weigert, Schutzzoll und Freihandel. 251
geringen Masse die Zölle auf die entsprechenden Halbfabrikate. Dagegen enthält er eine Reihe von
beträchtlichen Zollerhöhungen für die noch als schutzbedürftig anerkannten Industrien, so z. B.
für die Papier-, Postkarten-, Lederindustrie, für einzelne Branchen der Textilindustrie sowie für
die Industrien der Luxus- und Genussartikel. Er erinnert in gewisser Hinsicht an den französischen
Doppeltarif dadurch, dass er zu den Sätzen des Mindesttarifs einen Zuschlag von 25% des Waren-
werts gegenüber denjenigen Ländern vorsieht, die die Einfuhr aus den Vereinigten Staaten durch
Zollsätze oder sonstige Massnahmen ungünstiger behandeln als die Einfuhr aus anderen Ländern.
12. Der Imperialismus in Grossbritannien.
Grossbritannien, das Mutterland des Freihandels, hat sich bis heute der Schutz-
zollpolitik fern gehalten und besitzt der Hauptsache nach nur Finanzzölle. Jedoch lag der Merchan-
dise Marks Act von 1887 und der Patent and Designs Act von 1907 bereits die Nebenabsicht zu-
grunde, die fremde Konkurrenz zu behindern. Auch haben die Vorzugszölle, die Grossbritannien
in seinen Kolonien geniesst, ihm indirekt zu einem Zollschutz in den wichtigsten Absatzgebieten
verholfen. .
Erst in den letzten Jahren hat ein kräftiger Ansturm gegen die bisher anscheinend unverletzbare
Grundlage der auswärtigen Handelspolitik, gegen den Freihandel begonnen. Sein Urheber und be-
deutendster Führer ist der Politiker Joseph Chamberlain. Nachdem Chamberlain aus dem von ihm
beherrschten Kabinett ausgetreten war, um als eifriger Agitator für seine schutzzöllnerischen und
imperialistischen Ideen zu wirken, fand er bald wichtige Interessentengruppen, mächtige politische
Parteien, Tagesschriftsteller und nationalökonomische Gelehrte, die sich seinen Anschauungen
und Vorschlägen zuneigten. Durch Zölle will er die steigende Eisen- und Stahleinfuhr aus Amerika
eindämmen; mittels eines Reichszollvereins soll das die ganzen Kolonien umfassende, von Disraeli
geschaffene Empire, das „Greater Britain‘‘, vollendet werden. Dieser Reichszollverein soll die Er-
nährung sicherer gestalten, die Angst vor amerikanischen und russischen Kornsperren beseitigen, der
englischen Industrie Luft für ihren Absatz machen, die Einfuhr anderer Staaten in die Kolonien
durch ein Differenzialsystem zwischen letzteren und dem Mutterlande etwas verringern und über-
haupt eine handelspolitische und militärische Zusammenfassung der weit zerstreut liegenden Teile
herbeiführen. — Die grosse Mehrheit des englischen Volkes hält jedoch — nach den Erfahrungen
bei den Parlamentswahlen von 1906 und 1910, in denen die eine Tarifreform fordernden Unionisten
eine grosse Niederlage erlitten, zu urteilen — an der bisherigen Freihandelspolitik fest. —
Uebrigens ist auch in Deutschland der Gedanke, mittels Zollunionen die Ernährung der
ständig wachsenden Bevölkerung gegen evtl. Nahrungssperten des Auslandes sicher zu stellen, zeit-
weilig aufgetaucht. Insbesondere ist der Vorschlag Schmoller’s lebhaft erörtert worden, der die
Gründung eines mitteleuropäischen Zollvereins für Deutschland anregt. Ein solcher hätte Ungarn,
Rumänien, und vielleicht weitere Kreise der Balkanhalbinsel zu umfassen, und würde für Deutsch-
land in erheblichem Masse die nötigen Mehrgetreidezufuhren erleichtern. —
13. Würdigung der heutigen Schutzzollaera.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Handelspolitik der einzelnen Staaten im
wesentlichen abhängt von ihren natürlichen Grundlagen (geographische Lage, Grösse, Boden,
Klima etc.), von der wirtschaftshistorischen Stufe der Entwickelung, von der Handelspolitik der
Konkurrenzstasten und dem Verhältnis zu diesen, von dem Mass, in dem die einzelnen handels-
politischen Ideenströmungen in das Volk eingedrungen sind, von den inneren Parteikonstellationen
und Verfassungszuständen, von den Anschauungen der leitenden Staatsmänner, und nicht zuletzt
von der wirtschaftspolitischen Macht, die der einzelne Staat über andere schwächere Staaten
auszuüben fähig oder gewillt ist. Hieraus erhellt schon, dass heute Schutzzoll und Freihandel nicht
mehr reine Prinzipienfragen sind, sondern dass sie nur wechselnde Mittel für die Handelspolitik der
Staaten darstellen. Man sieht im Schutzzoll nicht mehr ein sicheres Bereicherungsmittel, aber eben-
sowenig eine unbedingt schädliche Einmischung in die Harmonie der volks- und weltwirtschaftlichen
Prozesse. Je nachdem die Staaten und Volkswirtschaften sich in einer aufsteigenden, starnieren-