Bernhard Harms, Weltwirtschaft und äussere Wirtschaftspolitik. 953
Diese Begriffsbildung schliesst sich unmittelbar an diejenige der „Volkswirtschaft“ an, die wir
charakterisieren als den Inbegriff der durch Verkehrsfreiheit und die technischen Verkehrs-
verhältnisse ermöglichten, sowie durch einheitliche Rechtssatzung geregelten und durch wirt-
schaftspolitische Massnahmen geförderten Beziehungen und deren Wechselwirkungen zwischen
den Einzelwirtschaften eines staatlich verbundenen Volkes. Volkswirtschaft und Weltwirtschaft
in dem hier erörterten Sinne sind demnach blosse abstrakte Begriffe, die freilich eminent
konkrete Dinge umschliessen.
Die Tatsache, dass die „Weltwirtschaft“ der politisch abgegrenzten Basis entbehrt, hat dazu
geführt, die Berechtigung ihrer begrifflichen Inbeziehungsetzung zur „Volkswirtschaft“ zu be-
streiten. Mit Unrecht, denn ausschlaggebend für die Analogie ist — abgesehen von den inter-
nationalen Rechtsverträgen — die Intensität der Wechselwirkungen, die durch die wirtschaftliche
Tätigkeit der die „Welt“ bewohnenden Menschen über die Grenzen der einzelnen Staaten hinaus
entsteht. Wird die Volkswirtschaft durch die Summe der Wechselbeziehungen zwischen den
wirtschaftlich tätigen Subjekten innerhalb eines Staates charakterisiert, so kann für die Be-
stimmung des Begriffes Weltwirtschaft nur ausschlaggebend sein, ob die internationalen, wirt-
schaftlichen Beziehungen sich heute bereits zu einem ähnlichen Gebilde hin- und herlaufender
Fäden verdichtet haben und dadurch ein neues, mehr oder weniger organisches Gebilde ent-
standen ist. Dies ist zu bejahen.
In keiner Zeit vorher sind die internationalen wirtschaftlichen Wechselbeziehungen so aus-
geprägt gewesen, als in der unsrigen. Es handelt sich heute nicht mehr, wie fast immer in der Ver-
gangenheit auf allen Stufen des Wirtschaftslebens um ein blosses Nebeneinanderbestehen von
Industrie- und Rohproduktionsländern, die ihren Überfluss austauschen, sondern die internatio-
nalen wirtschaftlichen Beziehungen sind heute derartig kompliziert, und die dabei entstehenden
Wechselbeziehungen so unendlich mannigfaltig, dass sie sich längst zu «inem eigenen Organismus
ausgewachsen haben. Ein Blick in die Praxis bestätigt dies. Erinnert seiz.B. an das internationale
Verkehrswesen, an Eisenbahnen, Post, Telegraph, drahtlose Telegraphie und Schiffahrt, an das
internationale Bankwesen und die Regelung des internationalen Zahlungsverkehrs, an die grossen
Kapitalkonzerns, denen nationale Grenzen längst gleichgültig geworden sind und überall auf dieser
Erde zur Stelle sind, wo dem Geldkapital lohnende Aufgaben winken. Hingewiesen sei ferner auf die
folgenschwere Wirkung der durch die modernen Verkehrsmittel ermöglichten Weltkonkurrenz auf
dem Gebiete der agrarischen Bedarfsbefriedigung, auf das internationale Kartellwesen mit seiner
grandiosen Organisation, auf die internationalen Schiffahrtsverbände und auf die Tatsache, dass fast
alle grossen Unternehmungen das Bestreben zeigen, in Form von Filialen und Tochterunternehmungen
ihre Tätigkeit über die eigene Volkswirtschaft auszudehnen. Zu beachten ist ferner das inter-
nationale Anleihewesen, das nicht selten auch unmittelbar zu wirtschaftlichen Wechselbeziehungen
führt. Und dass endlich niemals irgendwelche Zeit einen so enormen internationalen Güteraus-
tausch gesehen hat, wie — trotz aller Schutzzollpolitik — die unsrige, bedarf ebenfalls keiner Er-
örterung, wie auch die Tatsache für sich selbst spricht, dass der „Kampf um den Weltmarkt‘“, wie
wir ihn heute sehen, für unsere Zeit und für diese allein etwas durchaus charakteristisches ist.
Kurzum, wir sehen hier einen Komplex von Erscheinungen, der unser Wirtschaftsleben von dem-
jenigen aller früheren Zeiten deutlich abhebt.
kann nicht Aufgabe dieser Abhandlung sein, in eine exakte wirtschafts-wissenschaft-
liche Untersuchung der Weltwirtschaft als Gegenstand einer besonderen „Weltwirtschaftslehre‘
einzutreten. Hier handelt es sich vorläufig noch um so wenig geklärte Dinge, dass deren Erörterung
zunächst der reinen Fachwissenschaft vorbehalten bleiben muss. Dem Charakter des „Handbuchs
der Politik‘“ entsprechend, soll an dieser Stelle vielmehr der Frage näher getreten werden, in
welchem Masse die deutsche Volkswirtschaft in die Weltwirt-
schaft verknüpft ist, und welche Konsequenzen sich hieraus für
die deutsche Wirtschaftspolitik ergeben.
Ausgangspunkt solcher Erörterungen muss die Bevölkerungsfrage sein. Auf dem Gebiete
des Deutschen Reiches heutigen Umfanges lebten im Jahre 1816 24,8 Millionen Menschen. Heute
haben wir 65 Millionen bereits überschritten und in 20 Jahren werden es aller Voraussicht nach