Bernhard. Harms. Weltwirtschaft. und äussere Wirtschaftspolitik. 55
ist von der Zahl der Menschen, die wir zur Verteidigung aufrufen können. Man braucht sich nur
vorzustellen, welche Rolle heute Deutschland in Eurcr-: sp‘elen würde, wenn seine Bevölkerung,
wie diejenige Frankreichs, auch jetzt noch den Stand von 1870 nicht überschritten hätte. Wollen
wir uns in einer Zeit, in der die Tendenz zum Grossbetrieb auch in die Staatenbildung eingedrungen
ist, als Volk und Nation behaupten, so müssen wir cine der vornehmsten Bedingungen hierfür sicher
stellen: Innerhalb unserer Grenzen eine Bevölkerung, die gross genug ist, um sich unter allen Um-
ständen politisch durchsetzen zu können. Dies auch vor allem im Hinblick auf die starken Ver-
mehrungstendenzen innerhalb der slavischen Völker des Ostens.
Ich möchte deshalb sagen: Begünstigung des Neumalthusianismus bedeutet Versündigung
an der Zukunft unseres Volkes. Dies um so mehr, als die Geburtenzahl in Deutschland so wie so
ständig zurückgeht. Auf 1000 Einwohner des Deutschen Reiches kamen im Jahrzehnt 1871/80:
40,7, im Jahre 1911 nur noch 29,5 Geborene. Wenn wir uns trotzdem so stark vermehrten, so ist
dies lediglich auf die noch grössere Abnahme der Todesziffer zurückzuführen. Starben im Jahr-
zehnt 1871/80 von 1000 Menschen in Deutschland 28,8, so waren es im Jahre 1911 nur noch 18,2.
Diese Ursachen unserer Bevölkerungsvermehrung machen die meisten Menschen sich garnicht
klar, sondern zetern nur über die grosse Zahl der Neugeborenen und bedenken nicht, dass deren
auch ohne das Evangelium des Neumalthusianismus immer weniger werden. '
Wir wiederholen: das Deutsche Volk muss, wenn es sich in alle Zukunft als Nation erhalten
will, ein an Zahl grosses Volk sein. Wenn wir auch im 20. Jahrhundert und darüber hinaus unsere
Stellung unter den Weltvölkern behaupten wollen, so müssen wir auch eine starke Bevölkerungs-
vermehrung wollen. Freilich, und darauf muss mit Schärfe hingewiesen werden: Nicht auf die
Zahl allein kommt es an, sondern ebenso sehr darauf, dass es gelingt, diese Menschenmassen
physisch und psychisch sich so entwickeln zu lassen, dass vom gesamten Volkskörper behauptet
werden kann, er bewege sich unablässig in der Richtung aufsteigender Kultur. Wenn wir uns nun
auf den Standpunkt stellen: durch Realismus zum Idealismus, so heisst das: es muss die Möglich-
keit vorliegen, diese Menschenmassen hinreichend zu ernähren. Sind wir auf eine grosse Bevölkerung
angewiesen, so müssen wir auch Mittel und Wege finden, sie mit Arbeit und Nahrung zu versehen.
Nicht so kann die Frage lauten: Wie verringern wir unsere Bevölkerung? Sondern: Wie schaffen
wir die Grundlagen ihres für notwendig erachteten Wachstums?
Wie schon angedeutet, lenkt der Blick sich hier von selbst auf die Industrie. Schein-
bar liegt es freilich näber, zunächst einmal die Landwirtschaft ins Auge zu fassen. Wir wollen des-
halb über sie den Weg zur Industrie finden.
Welche Rolle spielt heute für die deutsche Volkswirtschaft unsere Landwirtschaft? Von
der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reiches gehörten zur Landwirtschaft
1882... 222220. 42,5%
185... 22200 35.7%
107... 2222220. 286%
Nehmen wir nur die Erwerbstätigen (im Hauptbedarf), so ergibt sich das folgende Bild
1882... .2. 2.2200. 43.3%
185.2... 222020. 36.1%
107.222 2200. 326%
Neben dieser prozentualen Abnahme der zur Landwirtschaft gehörigen Bevölkerung sehen wir
sogar deren absolute Verminderung, denn im Jahre 1882 umfasste sie 19,2, 1907 aber nur noch
17,6 Millionen Menschen.
Inwieweit hat diese Landwirtschaft uns ernährt? Die Antwort gibt uns der Einfubrüber-
schuss an agrarischen Produkten. Im Jahre 1912 haben wir an menschlichen und tierischen Nah-
rungsmitteln (ohne Genussmittel) für reichlich 1% Milliarden Mark mehr ein-
geführt als ausgeführt. Das ist eine ganz gewaltige Summe, denn sie umfasst etwa
50 %, unserer gesamten Einfuhr. Da ist es nun ganz selbstverständlich, dass unsere erste