Bernhard Harms, Weltwirtschaft und äussere Wirtschaftspolitik. 957
volk kann dem Staate die Mittel für seine neuzeitigen Aufgaben nicht geben, da der Rentabilität
des landwirtschaftlichen Betriebes durch das schon erwähnte Gesetz des abnehmenden Boden-
ertrages und die Länge der Betriebsperioden bestimmte Grenzen gezogen sind, über die hinaus das
hineingesteckte Kapital im umgekehrten Verhältnis zum Ertrage steht. Ganz anders in der Stoff-
verarbeitung, deren Ausdehnung — die Absatzmöglichkeit vorausgesetzt — an keine Grenzen ge-
bunden ist und deren Rentabilität, wie schon erörtert, sich nicht bloss im Verhältnis zum Betriebs-
umfang bewegt, sondern dessen Ausdehnung progressiv übersteigt. Industrielle Tätigkeit ermög-
licht häufigeren Kapitalumschlag, schafft höheres Einkommen und führt schneller zur Kapital-
bıldung als landwirtschaftliche Arbeit. Als Steuerquelle ist demnach die Industrie, wie jedermann
weiss, der Landwirtschaft überlegen — für den Geld suchenden Staat eine sehr beachtenswerte
Tatsache.
Je grösser der Spannrahmen industrieller Tätigkeit durch Erweiterung des Anteils am W.It-
markt gezogen wird, um so reichlicher auch die Einnahmen des Staates, von denen wieder die
Intensität seiner kulturellen Wirksamkeit und der politisch-militärische Aufwand abhängig sind.
Dezu kommt schliesslich noch, dass mit der industriellen Tätigkeit sich der Handel: ver-
bindet, der volkswirtschaftlich betrachtet, die grössten Werte schafft, wenn er international be-
trieben wird, und von diesem Standpunkt den heimischen Wohlstand in dem Masse fördert, als er
seinen Anteil am Welthandel ausdehnt. Dasselbe gilt vom Bankwesen und besonders der Schiffahrt,
Erwerbszweige, die unsere Zahlungsbilanz um so günstiger beeinflussen, je weltumspannender
sie sind.
Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, so ergibt sich ohne weiteres, dass Deutschland
vermöge seiner ideellen und materiellen Entwicklungsbedingungen sich in der Tat mehr und mehr
in die Weltwirtschaft verknüpft sieht; wir brauchen Spielraum für den Absatz unserer Produkte
auf dem Weltmarkt. Wir müssen uns aber anderseits auch den Bezug von Rohmaterialien sichern,
die zum Teil die Grundlage eben dieses unseres Exports sind. Daraus ergibt sich: Waren wir früher
ein Volk, dessen Interessen iın wesentlichen in Europa lagen, so werden wir heute in die Weltwirt-
schaft und damit in die Weltpolitik gedrängt. Dies scheint mir eines der wesentlichsten Ergeb-
nisse neudeutscher Eutwicklung zu sein.
be 's Weltpolitik und Wirtschaftspolitik! Man kann sich des Eindrucks nicht recht erwehren,
dass heute über die letzten Triebkräfte unseres Eingreifens in die Händel dieser Welt immer noch
ganz falsche Meinungen verbreitet sind. Historiker alter Schule lehren uns auf dem Boden rein
idealistischer Geschichtsauffassung sogar, dass die moderne Weltpolitik nichts anderes sei, als
Fortführung jenes Imperialismus, den es zu allen Zeiten gegeben habe. Und doch besteht gerade
im Hinblick auf die letzten Triebkräfte zwischen dem Imperialismus alter Zeit und moderner Welt-
politik ein gewaltiger Unterschied.
Eine Art weltwirtschaftlicher Expansion sehen wir freilich seit Jahrtausenden. Man kann
fast sagen: in jedem Reiche der Geschichte macht er sich geltend. Imperien erhoben sich auf dem
Boden der vier arischen Welten und auf dem der chinesischen Welt. Das erste Imperium der Ge-
schichte war das der Achämeniden, das zweite Alexanders, das dritte Rom. Das römische Reich
in seiner gewaitigen Au dehnung zeigt uns so Tecut, was mun in jener Z..t unter Impeıali-mus
ausschliesslich verstand: Nicht mehr und nicht weniger als die pulitische Weltberrschaft. Von
Gajus Grachus und Sulla begründet, von Cäsar und Augustus ausgebaut, beherrschte das römische
Kaisertum die damalige eigentliche Kulturwelt. Die politische Herrschaft war der Sıon der impe-
rialistischen Idee im Altertum.
Und so auch später. Der Universalismus des mittelalterlichen Kaisertums: Was war er
anders als der Inbegriff politischer Machtausdehnung — was anders war die Weltpolitik des mittel-
alterlichen Papsttums mit seiner ungeheuren Machtfülle! Ja, selbst die Politik Napoleons I. war
im gewissen Sinne ein Kampf um die Weltherrschaft, oder zum mindesten um die politische Vor-
machtstellung in der Welt.
Von diesem Imperialismus der Vergangenheit unterscheidet sich die mode.ne Weltpolitik
ganz gewaltig. Und zwar sowohl im Hinblick auf Art und Wesen, wie Triebkräfte. Der Imperialis-
mus alter Zeit war Zäsarismus, d. h. in seiner praktischen Gestaltung abhängig vom persönlichen
Handhach der Polıtik. II. Auliage Band II. 17