Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

310 Bernhard Harms, Handel. 
  
zu setzen. Wie im Handwerk durch die Novelle vom 26. Juli 1897 die Möglichkeit besteht, die 
Zahl der Lehrlinge in ein bestimmtes Verhältnis zu den beschäftigten Gehilfen zu setzen, und man 
damit sehr gute Erfolge erzielt hat, so könnte nach gleichen Grundsätzen auch im Handels- 
gewerbe eine Regelung des Lehrlingswesens versucht werden. Ein zweiter Missstand betrifft die Länge 
der Arbeitszeit. Erstrebenswert ist vor allem die möglichste Ausdehnung des 8 Uhr Laden- 
schlusses und der Sonntagsruhe; liegen doch für einen gesetzlichen Maximalarbeits- 
tag im Handelsgewerbe die Verhältnisse viel weniger ungünstig als im stoffveredelnden Gewerbe, 
weil die Konkurrenz des Auslandes völlig wegfällt. — Von weitgehender Bedeutung ist für den 
Handlungsgehilfen wie für alle Privatangestellten das Versicherungswesen. Die An- 
gliederung dieser Personenkreise an die allgemeinen Versicherungsgesetze hat sich im ganzen als 
zweckmässig erwiesen, doch ist darüber hinaus eine Berücksichtigung der speziellen Interessen 
des hier in Frage stehenden Standes zu wünschen. In dem von der Reichsregierung veröffent- 
lichten Entwurf eines Privatbesmt ich gsgesetzes ist der Weg einer Sonderversicherung 
beschritten worden. Es ist anzunehmen, dass diese in kürzester Zeit in irgend einer Form Gesetz 
wird. — Besonderen Wert legen die Handlungsgehilfen auf die Einrichtung von gesetzlichen 
Interessenvertretungen (Kaufmannskammern). Bei der Einbringung des Entwurfs 
über Arbeitskammern, der leider im Reichstag stecken geblieben ist, stellten die verbündeten Re- 
gierungen besondere Kammern für Angestellte und Techniker in Aussicht. Es ist freilich fraglich, 
ob sie in absehbarer Zeit zustande kommen werden, obwohl an Vorschlägen für ihre Ausgestaltung 
kein Mangel ist. Zahlreiche Denkschriften und Gutachten der Handlungsgehilfenverbände haben 
auf diesem Gebiete ein sebr umfangreiches und wichtiges Material beigebracht. — Eine weitere 
Forderung der Handlungsgehilfen bezieht sich auf die Errichtung von Handelsinspektionen, nach 
Art der Gewerbeaufsicht. Die Reichsregierung hat sich, dem Widerstreben der Prinzipale folgend, 
diesen Bestrebungen gegenüber bisher ablehnend verhalten. Es fragt sich aber, ob auf die Dauer 
bnediese Instituti l in wird. Eine weitere Forderung hingegen: gesetzliche Mindest- 
gehälter, dürfte in absehbarer Zeit keine Aussicht auf Verwirklichung haben. Es fehlen dafür auch 
alle Voraussetzungen. Solche Fragen zu regeln, eventuell mit Hilfe der Berufs-Organisationen 
muss den Beteiligten überlassen bleiben. 
Diegrosse Zahlder Handlungsgehilfen brachte es mit sich, dass in deren Reihen frühzeitig 
Organisationsbestrebungen einsetzten. Doch kam es zu einer gewerkschaftlichen Organisation 
verhältnismässig spät, wie diese auch heute noch keineswegs überwiegt, wenngleich sozial- 
teformerische Bestrebungen zur Zeit von allen Verbänden verfolgt werden. Die wichtigsten 
der heute bestehenden Organisationen sind die folgenden: 1. Verband deutscher 
Handlungsgehilfen, mit dem Sitze in Leipzig; er fasst nahezu 100000 Mitglieder. 
2. Verein für Handlungskommis von 1858 (100000 Mitglieder), ein Verband, 
der ursprünglich im wesentlichen auf Unterstützungs- und Bildungswesen sowie Stellen- 
vermittlung sich beschränkte, neuerdings aber auch zu sozialpolitischer Tätigkeit über- 
gegangen ist. In seiner Organisation unterscheidet er sich von den übrigen Verbänden 
dadurch, dass er das paritätische Prinzip scharf betont und demgemäss viele 
seiner Mitglieder Prinzipale sind, wodurch die Stellenvermittlung des Vereins günstig, be- 
einflusst wird. 3. Deutsch-nationaler Handlungsgehilfenverband (Über 
100 000 Mitglieder). Eine rein gewerkschaftliche Organisation, die stark sozialreformerisch ist, da- 
neben aber auch unzeitgemässe Forderungen vertritt, so die Beseitigung der Frauenarbeit im 
Handelsgewerbe. Juden sind von der Mitgliedschaft des Verbandes ausgeschlossen. 4. Zentral- 
verband der Handlungsgehilfen und -Gehilfinnen. Als „freie“ Gewerk- 
schaft der Zentralkommission angeschlossen. Der Verband ist mit seinen noch nicht 2000 Mitgliedern 
für die kaufmännische Welt bedeutungslos. 5. Verein deutscher Kaufleute (20000 
Mitel.). Im Jahre 1873 als Hirsch-Dunkersche Organisation gegründet, im Jahre 1911 aber als 
unabhängige Organisation fortgeführt. 6. Bund der kaufmännischen Ange- 
este ıl ten. Eine Neugründung des Jahres 1911, die sich in ihrem Aufruf als die „erste unab- 
hängig-gewerkschaftliche Organisation“ bezeichnet, „frei von Einflüssen des Arbeitgebertums, 
frei von Rassen-, Religions- und perteipolitischen Bestrebungen, frei von organisatorischer Ver- 
bindung mit der Arbeiterbewegung etc“. Ob für diese Neugründung ein Bedürfnis vorhanden 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.