Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

Martin Weigert, Die Privatbeamtenfrage. 351 
„Die Handlangegehilfenfrage“‘. Berlin-Wilmersdorf, Rothschild, 1911. — Thissen: „Die soziale Lage‘ destechnischen 
Berufs und ihre Hebung‘. (Schrift d. Deutsch. Techniker-Verb.) — Tischendörfer: „Die Lage der technisch-in- 
dustriellen Beamten‘. — Jaeokel, Reinhold: „Statistik über die Lage der technischen Privatbeamten“ von Gross- 
Berlin.“ — Hoepke, Materialien über die wirtschaftliche und soziale Lage der Zuokertechniker“ (Schrift des Vereins 
Dtsch. Zuckertechniker). — Potthoff, Heinz: „Materialien über die wirtschaftliche e der Werkmeister." — 
A. Trampe: „Die wirtschaftliche und soziale Lage der Güter- und Fortsbeamten.“ (Schrift d. Verbandes d. Güter- 
beamten-Vereinigungen Deutschlands.) — . 
Über die Berufisvereinsliteratur finden sich ausführliche Verzeichnisse bei Weigert: Die 
Handlungsgehilfenfrage‘‘, Seite 319 u. 320; sowie in den Schriften der Ges. für Soziale Reform, Heft 30, S. 10 bis 13. 
1. Die wirtschaftliche Entwickelung der letzten Dezennien hat durch die bedeutsamsten tech- 
nischen, kapitalistischen und organisatorischen Umwälzungen zur Entstehung der modernen 
Grossindustrie geführt. Handel und Verkehr, denen die wirtschaftliche Aufgabe der Güterverteilung 
zufällt, haben mit der machtvollen Entwicklung der Industrie Schritt halten und gleich ihr viel- 
fach den grossbetrieblichen Charakter annehmen müssen. Der Grossbetrieb aber hat hier wie dort 
durch seine finanzielle und technische Überlegenheit den sonst zu erwartenden Zuwachs der Klein- 
betriebe beschränkt. Die Folge hiervon ist einerseits gewesen, dass viele Existenzen des Mittelstandes 
ihrer Selbständigkeit beraubt worden sind; andererseits aber hat die durch den Grossbetrieb be- 
dingte Arbeitsteilung nicht nur die Nachfrage nach Lohnarbeitern gewaltig gesteigert, sondern sie 
hat auch eine ständig wachsende Zahl von Stellen für mittlere und höhere Betriebsbeamte geschaffen, 
die sich zum Teil aus jenen ehemals selbständigen Kreisen rekrutieren. Gesellschaftliche Stellung, 
Bildungsniveau und E:nkommensverhältnisse dieser Beamtenklasse weichen im grossen und ganzen 
nicht erheblich von dem der selbständigen kleinen Handel- und Gewerbetreibenden ab. 
Es ist so ein neuer unselbständigerMittelstand, das sogenannte Privatbeamtentum entstanden, 
welches über 114, Millionen Erwerbstätige mit ebensovielen Familienangehörigen umfasst. Die 
wirtschaftliche und soziale Lage dieser grossen Klasse aber ist naturgemäss von wachsender Be- 
deutung für die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft geworden. 
2. Es hat an Versuchen nicht gefehlt, scharfe Begriffsmerkmale für den neuen Mittel- 
stand aufzustellen, die jedoch alle misslungen sind. Die Definition im österreichischen Privat- 
beamtenpensionsgesetz ist undeutlich und lückenhaft. Die Betonung der Beamteneigenschaft 
ist kein rechtes Merkmal, denn diese Beamteneigenschaft fehlt vielen Gruppen, die sich zur Privat- 
beamtenschaft zählen (Büroschreiber) und vom Gesetze ihr zugerechnet werden (Ladengehilfen). 
Auch die geistige „Tätigkeit“ unterscheidet den Angestellten nicht vom Handarbeiter, denn ein 
Porzellanmaler, ein Feinmechaniker und manch anderer Handarbeiter leistet höhere geistige Tätig- 
keit als ein Aktenschreiber, ein Verkäufer im Grünkramladen, ein Kontenaddierer etc. Die Grenzen 
zwischen Arbeiter und Angestellten sind historisch von der wirtschaftlich-technischen Entwickelung, 
von der Gesetzgebung, von mancherlei Zufälligkeiten geschaffen; logisch begründet sind sie nicht. 
Insbesondere treten wesentliche Unterschiede zwischen der Beamtenschaft und Arbeiterschaft 
in ihren Bestrebungen und Interessen zutage: So ist der Arbeiterschaft der wirt- 
schaftliche Kampf zur Gewohnheit geworden, und erstrebt sie daher möglichste Freiheit im Arbeits- 
verhältnis. DiePrivatbeamten haben dagegen bisher den Hauptwert auf eine Stetigkeit des Arbeits- 
verhältnisses, auf eine möglichst sichere und dauernde Anstellung gelegt. Der Dienstvertrag wird des- 
halb auf längere Zeit geschlossen, ebenso das Gehalt für längere Fristen vereinbart und in grösseren 
Intervallen, meist monatlich, ausgezahlt. — Ferner stellt auch das Leben an den Privatbeamten im 
grossen und ganzen höhereAnforderungen als an denArbeiter. Man denke dabei an die bessereVor- und 
Ausbildung, an Kleidung, gesellschaftliches Auftreten, Kindererziehung etc. Sein ganzer Standart 
of life ist ein dauernd gehobener. Ein Heruntersinken aus dem hergebrachten Lebensniveau trifft 
ihn deshalb weit schmerzlicher als den Durchschnittsarbeiter. Endlich ist auch sein soziales Ver- 
hältnis zu dem Unternehmer wesentlich verschieden von dem des Arbeiters zum Arbeitgeber: Der 
Privatbeamte ist nicht wie der Lohnarbeiter nur eine Hand im Geschäft, er ist vielmehr sehr häufig 
durch den Einblick in die Transaktionen und die Lage des Geschäfts ein Teil des Kopfes. Das 
Neben- und Miteinanderarbeiten von Prinzipal und Angestellten, die qualifizierte und z. T. ver- 
antwortungsvolle Tätigkeit des Angestellten, die Tatsache, dass für viele Angestellte die Beamten- 
Handbuch der Politik. II. Auflage. Band II. 21
	        
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