Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

Hugo Thiel, Die Bedeutung der Landwirtschaft. 359 
  
harrungszustand zu verbleiben. Bei der beliebigen Ausdehnungsfähigkeit der Industrie kann 
jeder Fabrikant seinen Konkurrenten zwingen, sein Geschäft aufzugeben oder ihm in Qualität 
und Preis des Fabrikats gleich zu bleiben, in der Landwirtschaft kann der indolenteste Bauer unbe- 
einflusst neben dem intelligentesten Gutsbesitzer bestehen, wenn er nur notdürftig seinen Lebens- 
unterhalt gewinnt, da der Gutsbesitzer seinen Betrieb, der an die Fläche gebunden ist, nicht so ver- 
grössern kann, um den Nachbarn den Markt zu nehmen. Hierin liegt ja ein gewisser Vorzug der 
Landwirtschaft vor dem gewerblichen Leben, es hat für die gesamte Nation und ihre Gesundheit 
immerhin eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, wenn ein Teil der Bevölkerung eine ruhigere 
Existenz hat als sie den meisten im scharfen Konkurrenzkampfe stehenden Gewerbetreibenden 
möglich ist, allein die Gesamtproduktion der Landwirtschaft wird doch recht ungünstig beein- 
flusst, wenn in einem Lande wie Deutschland, welches wesentlich doch landwirtschaftlich betrachtet 
ein Bauernland ist, die alte Redensart noch zuviel Geltung hat: Wenn der Bauer nicht muss, regt 
er weder Hand noch Fuss. Die geringere Berücksichtigung der Landwirtschaft mag ihren Grund 
darin gehabt haben, dass man in den Zeiten, in welchen Deutschland noch ganz vorwiegend Agrar- 
stast war, eine Förderung der Industrie für notwendiger erachtete. weil man von derselben eine 
raschere Vermehrung des Nationalwohlstandes erwartete, für die Landwirtschaft glaubte man 
genug zu tun, wenn man sie von allen Fesseln persönlicher und dinglicher Natur befreite und es 
dem erleuchteten Selbstinteresse überliess, für sich zu sorgen. Wer wollte auch die grossartigen 
Fortschritte verkennen, welche die Aufhebung der Leibeigenschaft und der Erbuntertänigkeit, 
die Regelung der gutsherrlich bäuerlichen Verhältnisse, die Ablösung der Reallasten und Servi- 
tute, die Zusammenlegung der Grundstücke und die Aufteilung der Gemeinheiten und ähnliche 
Massregeln herbeigeführt haben; es sind aber doch gelinde Zweifel berechtigt ob man nicht im Ver- 
trauen auf die eigene Einsicht der so von vielen Fesseln befreiten Landwirte oder aus nicht 
durchweg richtigen wirtschaftlichen Anschauungen stellenweise zu weit gegangen oder 
andererseits erhebliche Unterlassungen begangen hat. Wenn z.B. die berühmte Preussische 
Agrargesetzgebung bei der Aufhebung aller Verkaufs- und Verschuldungsbeschränkung 
davon ausging, dass nun jedermann diese Freiheit benutzen werde, um seinen Besitz 
so durch Abverkauf einzelner Parzellen schuldenfrei zu stellen, so ist dieser fromme 
Glaube sehr getäuscht worden, ebenso wie die Freigebung der Bewirtschaftung des Waldes 
vielfach zu schlimmen Waldverwüstungen geführt hat. Desgl. hat die Aufteilung der ge- 
meinen Weiden, die diktiert wurde von der Ansicht, dass nur die Stallfütterung wegen der ver- 
mehrten Mistproduktion rationell sei, zwar die mit ihr verbundene an und für sich sehr nützliche Zu- 
sammenlegung der Grundstücke sehr erleichtert aber der Viehzucht ganz erheblichen Schaden zuge- 
fügt und die Viehhaltung der kleinen Leute fast unmöglich gemacht. zumal da, wo auch noch alle 
sonstigen Weideberechtigungen in der Forst etc. aufgehoben wurden. Ein ganz besonderer Übelstand, 
der sich gerade in unserer Zeit fühlbar macht, ist ausserdem noch dadurch entstanden dass man bei 
der Regulierung der gutsherrlich bäuerlichen Verhältnisse wegen des Widerstandes des Grossgrund- 
besitzes die Instleute besitzlos liess und damit den Grund zu den heutigen unerfreulichen Verhält- 
nissen der besitzlosen Arbeiter und damit ihrerAbwanderungindie Industrie legte. Es ist auch zweifel- 
haft ob man bei der besonderen Eigentümlichkeit des Grundbesitzes richtig gehandelt hat ihn im 
allgemeinen wie das mobile Kapital und den städtischen Besitz in bezug auf Verschuldung und 
Vererbung zu behandeln. Wenn man glaubte, die Freiheit werde schon allein genügen. um gesunde 
Verhältnisse herbeizuführen, die minder tüchtigen Elemente auszumerzen und die Güter den Weg 
zum besten Wirt finden zu lassen, so übersah man, dass diese Wirkung zwar schliesslich eintreten 
werde, aber doch sehr langer Zeit bedürfe und inzwischen eine für die Gesamtproduktion sehr un- 
heilvolle Devastation der in den Händen untüchtiger oder von Schulden erdrückter Wirte befind- 
lichen Wirtschaften stattfinden müsse. Der Gedanke, dass der Landwirt seine wichtige Rolle im 
Staatsleben eigentlich nur vollständig ausfüllen könne, wenn er als freier Mann auf freier Scholle 
sitze, ist allmählich aus dem Bewusstsein der Mehrheit verschwunden, Schulden zu haben oder, wie 
man das schöner ausdrückt. die Segnungen der Kreditbenutzung sich zugute kommen zu lassen, 
gelten als der natürliche Zustand, der den Grundbesitz nur als Kreditbasis auffasst. Die Land- 
schaften die ursprünglich Entschuldungszwecken dienen sollten, haben durch Erleichterung der
	        
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