Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

Josef Grunzel, Die Industrie. 337 
Durch die Bildung des deutschen Zollvereins hatte die Volkswirtschaft der Politik vorge- 
arbeitet, die Politik bekam aber Gelegenheit zu einem Gegendienst durch die Gründung des Deutschen 
Reiches. Man spricht viel vom Milliardensesen, aber die wirtschaftlichen Vorteile der fünf Milliarden 
Entschädigung nach demKriege mit Frankreich sind mindestens zweifelhaft ; vielleicht wärensogar 
ihre Nachteile unbestritten, wenn man nicht klugerweise einen grossen Teil als totes Kapital fest- 
gelegt hätte. Ein plötzlicher starker Kapitalzufluss stört das Gleichgewicht. Für die Industrie be- 
deutete aber die Gründung des Reiches den Beginn der Expansion naclı aussen. In Europa mag man 
hie und da über Prestigepolitik die Achsel zucken, sie ist aber doch ein wirksames Mittel staatlicher 
Exportförderung nach aussereuropäischen Gebieten. Früher schniückte die Hütten im Orient das 
Bild Napoleons, dann musste es dem Bilde Bismarcks weichen. Deutschland wurde der Lehrmeister 
der modernen Staats- und Kriegskunst und die daraus sich ergebenden zahlreichen Beziehungen er- 
wiesen sich wirtschaftlich ebenso fruchtbar wie jene sichtbaren und unsichtbaren Fäden, welche die 
katholische Missionstätigkeitzwischen Frankreichunddem Orient gezogenhatte. Über die Wallder 
Ware entscheidet nicht der niedrigste Preis, sondern die guteMeinung desKäufers, und der Hinweis 
auf den niedrigsten Preis ist nur ein Mittel, diese gute Meinung zu erzeugen. Die deutsche Ware 
musste aber nach dem Orient und nach Übersee, weil sich die deutsche Industrie nur durch den 
Export spezialisieren und damit vervollkommnen konnte. 
In einem Lande verzeichnet zwar das 19. Jahrhundert einen noch überraschenderen Auf- 
schwung der Industrie: in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Vergleich fällt aber nicht zu 
Ungunsten Deutschlands aus, wie mancher Amerika-Enthusiast im ersten Anblick der Wolken- 
kratzer geglaubt haben mag. In Deutschland wurde rasch gebaut, aber vorsichtig Stein auf Stein 
gelegt, sodass man immer einen festenund wohlgefügten Bau vorsichhatte. Dasamerikanische Wirt- 
schaftsleben entwickelte sich mit dem Wageniut, aber auch mit dem Leichtsinn der Jugend. auf 
jungfräulichem Boden, unter den Händen von Abenteurern und Spekulanten, und birgt daher 
schwere Gefahren in sich. Die Organisation der industriellen Produktion in Kartellen und Trusts, 
die in Deutschland aus den Bedürfnissen der produktiven Arbeit emporwuclıs, wurde in Amerika 
zu einem Werkzeug finanziellen Gründungsschwindels, die Eisenbahnen, in Deutschland aus- 
schliesslich gemeinwirtschaftlichen Interessen dienstbar, wurden in Amerika zunı Spielball privater 
Interessen, nirgends ist das Tarifunwesen so zur Blüte gelangt wie dort, kein moderner Kulturstaat 
hat sein Geldwesen so schlecht geregelt wie die Union, dabei beherrscht eine masslose Kor- 
ruption die gesamte Gesetzgebung und Verwaltung. Die Vergangenheit war für Deutschland 
wolıl ein Hemmnis, aber auch eine Schule, und zwar eine recht harte Schule. Die steht 
den Vereinigten Staaten von Amerika noch bevor. 
ewisse charakteristische Züge der industriellen Entwicklung Deutschlands treten am besten 
bei der Darstellung einzelner Industriezweige hervor. Die führenden Massenindustrien sind überall 
auf Grund der Verarbeitung von Baumwolle und Eisen entstanden. Im 18. Jahrhundert war zwar 
Sachsen eines der wichtigsten Produktionsgebiete für Baumwollwaren und betriebauch über Leipzig 
einen ziemlich lebhaften Export, aber die Bnaumwolle stand damals hinter den anderen Spinnstoffen, 
wie Flachs, Wolle und Hanf, an Bedeutung weit zurück. Allmählich wurde aber in derKleidung die 
herkömmliche Tracht von der rasch wechselnden, aber auch stark verbreitungsfähigen Mode ver- 
drängt. Diese erzeugte das Bedürfnis nach einem rascher verbrauchbaren, aber billigeren und in 
grösseren Massen vermehrbaren Spinnstoff. Damit begann die Vorherrschaft der Baumwolle. In 
dieser Hinsicht war aber England doppelt begünstigt, weil es durch seine günstige Lage den über- 
seeischen Rohstoff am billigsten bezielien und mit Hilfe seines internationalen Zwischenhandels den 
grössten Markt versorgen konnte. Das Bestreben nach Massenherstellung führte zur Erfindung der 
pinnmaschine und des mechanischen Webstuhls. So wurde die Baumwollindustrie einer der wich- 
tigsten Grundpfeiler der wirtschaftlichen Stellung Englands. Deutschland konnte erst nach der 
Bildung des deutschen Zollvereins daran denken, die früheren Ansätze einer Baumwollindustrie 
neu zu entfalten, denn gegen England war nur der maschinelle Grossbetrieb konkurrenzfähig. Der 
war aber nur möglich bei grossem Markt. Heute können wir nun ein interessantes Sıück der 
Entwicklung überselien. Zwar sagt uns die Spindelstatistik des Internationalen Verbandes der 
Baumwollspinnerei für den 1. März 1910, dass Deutschland nur 10,1 Mill., Grossbritannien aber 
25°
	        
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