388 Josef Grunzel. Die Industrie.
53,7 und die Vereinigten Staaten von Amerika 28 Mill. Spindeln zählten. Ein verlässlicheres Bild
bietet uns aber die Entwicklung des Rohstoffverbrauches, der sich in beiden Staaten leicht kon-
trollieren lässt, weil die rohe Baumwolle nur im Wege des Aussenhandels zur Verwendung gelangen
kann. In Deutschland sehen wır ein fast ununterbrochenes stetiges Steigen des Baumwollverbrauches
auf den Kopf der Bevölkerung von 0.34 kg durchschnittlich in den Jahren 1836—40 auf 7 kg in der
Gegenwart. In England stellte sich dieser Verbrauch schon im Durchschnitt der Jahre 1846—50
auf 8kg. erreichte aber in den Jahren 1886—90 mit 18,97 kg den Höhepunkt und ist seither im Fallen
(1909: 16 kg). Die deutsche Industrie ist heute in ihrer Leistungsfähigkeit überlegen, denn mit
nicht einmal Y, der englischen Spindeln verbraucht sie mehr als die Hälfte des englischen Jahres-
verbrauches in roher Baumwolle. Nach den amtlichen Produktionserhebungen für das Jahr 1907
wurden in Deutschland von 9,5 Mill. Spindeln 407,5 Mill. kg roher Baumwolle zu 358,9 Mill. kg
eindrähtigen Baumwollgarnen im Gesamtwerte von 644,8 Mill. Mark verarbeitet.
Von entscheidender Bedeutung für die Baumwollindustrie dieser Länder ist der Auslands-
markt. Die handelsstatistischen Ziffern ergeben, dass die Ausfuhr Englands in Baumwollwaren
stagniert, nämlich periodenweise zurückgeht, um sich dann wieder ein wenig zu erholen. Deutsch-
land war aber imstande, seine Ausfuhr in Baumwollwaren von 96,4 Mill. im Jahre 1880 auf 432 Mill.
Mark im Jahre 1907 zu steigern ; die folgenden Jahre zeigten zwar eine Abschwächung, doch ändern
solche den Welthandel überhaupt treffende Konjunkturschwankungen nichts an der Tatsache,
dass sich Deutschland auf Kosten Englands die Auslandsmärkte erobert. Das ist zum grossen Teil
ein Erfolg der in fremden Zeitschriften immer wieder besprochenen und angegriffenen deutschen
Vertriebsmethode. Das alte englische Geschäftsprinzip basiert auf der Anschauung, der Fabrikant
habe sich nur um die Erzeugung zu kümmern und den Verkauf der Ware dem Kommissionär zu
überlassen, der sich nahezu vor den Toren der Fabrik niederlässt. Der fremde Grosshändler musste
nach England kommen und nehmen, was ibm der Kommissionär gab: vom Fabrikanten bekam er
überhaupt nichts. Das Prinzip war gut, solange im technischen Betriebe eine Erfindung die andere
jagte und überdies alle Welt in England kaufen musste, weil dieses Land das Industrie-Monopol
besass. Heute. in der Zeit schärfster Konkurrenz, läuft der Fabrikant dem Kunden nach, nicht um-
gekehrt. Der Kommissionär im Lande wird durch den im Ausland tätigen Reisenden ersetzt. Baum-
wollespinnen ist keine Frage mehr des technischen Könnens, sondern des Kapitals; die Kunst besteht
nicht darin, die Garne herzustellen, sondern zu verkaufen. So hängt der Absatz aller industriellen
Massenartikel nicht von der technischen, sondern von der kommerziellen Eignung des Unternehmers
ab. Die Deutschen als die jüngeren Konkurrenten auf dem Weltmarkt: mussten natürlich nach einem
Mittel suchen, die älteren auszustechen. Sie haben es auch gefunden.
Während die Baumwollindustrie ein Massstab für die Expansion noch aussen ist, kann die
Eisenindustrie als Gradmesser für die Intensität des inneren Wirtschaftslebens gelten. Die ungeheure
Zunahme der Fabriksindustrie, die steigende Verwendung von Maschinen selbst im Kleingewerbe,
der Übergang der Landwirtschaft zu einer intensiven Arbeit mit eisernen Geräten und Maschinen,
die rasche Ausbreitung des Eisenbahnnetzes, der Ersatz des Holzes durch Eisen und Stahl beim
Schiffbau, die durch das Wachstum der Städte reger gewordene Bautätigkeit, alles das hat den Be-
darf nach Eisen gewaltig erhöht. Der Verbrauch von Roheisen, berechnet auf den Kopf der Bevölke-
rung, ist von 26,5 kg im Durchschnitt der Jahre 1861—65 auf 208,9 kg im Jahre 1907 gestiegen;
seither trat infolge des Konjunktur-Rückganges eine Abschwächung ein, aber er ist in Deutsch-
land heute schon grösser als in England und hält sich auf ungefähr gleicher Höhe mit jenem der
Vereinigten Staaten von Amerika und Belgien. Dabei ist nur jener Verbrauch angegeben, der
sich aus den Ziffern für die eigene Produktion, sowie für die Einfuhr und Ausfuhr in Roheisen
ergibt. Wollte man den gesamten Eisenkonsum eines Landes feststellen, so müsste man auch die
Einfuhr und Ausfuhr von Eisenwaren und Maschinen aller Art mit der Menge des darin ver-
arbeiteten Eisens einstellen, was jedoch nur im Wege ziemlich vager Schätzungen möglich ist.
Wollte man aber einen Rückschluss auf die industrielle Produktivität ziehen, so müsste man den
sehr verschiedenartigen Fabrikationswert hinzuschlagen, welchen das inländische oder fremde
Roheisen durch die Inlandsindustrie erreicht, denn es ist wirtschaftlich nicht gleichgültig, ob das
Material in Form von Schienen, Blechen oder Maschinen zum letzten Verbraucher oder zum Export