Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

Julius Wolf, Die öffentlichen Abgaben in Deutschland. 9 
  
nichts weniger als sicher, so dass in Wirklichkeit durch die Steuer bloss der Glücks versuch 
getroffen wird. Es handelt sich hier um einen „konsumtiven‘ Aufwand, insofern durch denselben 
der aleatorische Trieb befriedigt wird, aber doch um einen „Aufwand“, welcher gleichzeitig eine 
„Kapitalsanlage‘ darstellt. 
Verhältnismässig hoch von den zwei hier in Frage kommenden Steuern ist die Lotterie- 
lossteuer, verhältnismässig niedrig die Börsensteuer, diese unter dem Zwang der Ver- 
hältnisse, da sie gleichzeitig auf Effektivgeschäfte fällt und Eifektivgeschäfte sich äusserlich von 
Differenzgeschäften nicht unterscheiden. Ueberdies spielt im Verhältnis zum Lotterielos das 
Spekulationsgeschäft an der Börse immer noch die produktivere Rolle, schafft mit dem Ergebnis 
jederzeitig leichterer Bedarfsbefriedigung zusätzliches Angebot und Nachfrage. °) 
Die Steuer von Lotterielosen (20 %, vom Nennwert bei inländischen, 25 % bei ausländischen 
Losen) trug 1912 nicht weniger als 50.3 Millionen. Wieviel ausdem Gesamtertrag der Börsensteuer 
auf spekulative Transaktionen zu rechnen ist, ist unbestimmbar. 
Handelt es sich hier um Steuern mit Zwittercharakter, wenn auch i im Wesentlichen um solche 
auf den Glücksversuch, so sind unzweideutige Einl Ert 
steuern, die Tantiemensteuer, weiter die Vermögenszuwachssteuer von Grundstücken und auch die 
Zinsbogensteuer. 
Die Erbschafts- (und Schenkungs-) Steuer, in der letzten Reichsfinanzreform viel 
umstritten — hier schieden sich die Wege der Parteien und über die N ic h t bewilligung der Reichs: 
erbschaftssteuer auf legitime Deszendenten und Ehegatten fiel der vierte Reichskanzler —,’) wird 
vom Reiche gegenwärtig als rudimentäre Erbschaftssteuer bei Erbschaften, die an entfernte Ver- 
wandte, an Nichtverwandte, sowie an Aszendenten gehen, und von Deszendenten insoferne es sich 
um uneheliche, später legitimierte, sowie um Stief- und Adoptivkinder handelt, erhoben. Ihre 
Sätze sind nicht niedrig zu nennen, beträgt doch der Normalsatz für Geschwister und Ge- 
schwisterkinder, auch Eltern 4, der Satz für Schwiegerkinder und Abkömmlinge zweiten Grades 
von Geschwistern (Grossneffen usw.) 6 und bei weiterer Verwandtschaft und Nichtverwandtschaft 
8 und 10 % und erfahren diese Sätze einen Zuschlag, der mit ?/,, (desNormalsteuersatzes) bei Ueber- 
schreitung von 20 000 Mark Erbschaftswert beginnt und volle !5/,, bei Ueberschreitung der Million 
erreicht. Die Steuer kann also in den verschiedenen Steuerklassen 10, 15, 20 und 25 % betragen. 
Sie wetteifertdadurch bereits mitden Steuersätzen der Länder, die ihre Erbschaftssteuer zur höchsten 
Entwickelung gebracht haben, und doppelt auffällig war unter solchen Umständen die Freilassung 
der Deszendenten. Indess gibt es, wie unten des Näheren nachzuweisen, einzelne, wenn schon wenige 
Einzelstaaten in Deutschland, die Deszendentensteuern erheben (Hansa-Städte und Elsass- 
Lothringen). Im übrigen sind neuerdings die Deszendenten durch die Vermögenzuwachssteuer 
von 1913 zur Steuer genommen. 
Von dem Ertrag der Reichserbschaftssteuer fällt an die Bundesstaaten 44, auch haben sie 
das Recht, Zuschläge zu dieser zu erheben. 
Die der Erbschaftssteuer zu gebende Begründung ist strittig. Für uns ist die Erbschafts- 
steuer eine Spezialsteuer auf Gelegenheitseinkommen, im besonderen auf Konjunktural- oder 
Glücks-, ‚Einkommen‘: Die „Konjunktur“ ist der Erbanfall. Der Erbschaftssteuer ist übrigens 
eine Steuer von Schenkungen unter Lebenden angegliedert. 
Der Ertrag der Reichserbschaftssteuer (im Voranschlag für 1912 und 1913 43.5 und 47 Mill.) 
war 1911 volle 59.9 Millionen. Die zur Versteuerung kommende Erbschaftsmasse war 1911 818 Mill. 
Mark, davon 285 Millionen Erbschaften von Geschwistern, 238 Millionen von Geschwisterkindern, 
*) Anderweitige produktive Funktionen von Bedeutung dürften der Spekulation kaum zuzugesteben sein. 
Vgl, darüber letztıin meine „Volkswirtschaft der Gegenwart und Zukunft“, 1912. 
?) Über den Kampf um die Erbschaftssteuer gelegentlich der letzten Reichsfinanzreform und seine tieferen 
Gründe vgl. nebst Julius Wolf. Die Reichsfinanzreform, 1909, 8. 58 ff. vor allem Adolf Wagner in seiner 
Schrift „Die Reichsfinanznot und die Pflichten des deutschen Volks wie seiner politischen Parteien. Ein Mahn- 
wort eines alten Mannes“, 1908, und Hans Delbrück in den Preussischen Jahrbüchern, 1908, sowie Strutz: 
Reichs- und Landessteuern (Finanzw. Zeitfr., herausgeg. von G. v. Schanz und Jul. Wolf) 1913.
	        
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