Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

    
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Karl von Lilienthal, Sittlichkeitspolizei. 
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lerischen Kultur die Untersuchung und Darstellung geschlechtlicher Probleme gar nicht untersagen. 
Das gilt nicht nur für Wort und Schrift, sondern ebenso für dıe bildende Kunst. Hier kann z. B. 
die Wiedergabe des nackten menschlichen Körpers nicht verboten werden, ohne der Kunst un- 
erträgliche Beschränkungen aufzuerlegen. Dass der Anblick eines nackten menschlichen Körpers 
in Natur oder in einem Kunstwerke die geschlechtliche Sinnlichkeit erregen kann, ıst zweifellos. 
Ebenso zweifellos aber ıst, dass das keineswegs auch nur regelmässig der Fall sein müsste. Hier 
gibt die Individualität des Betrachters den Ausschlag. Aber weilın einzelnen Menschen der Anblick 
jedes halbwegs geeigneten Gegenstandes unzüchtige Empfindungen auslöst, kann man dle Mchr- 
zahl der reinlich Denkenden nicht wertvoller Kulturgüter berauben und der Wissenschaft und 
Kunst Fesseln anlegen. Es wırd deshalb unzüchtig eine Darstellung ım wahren Sinne des Wortes 
nur genannt werden dürfen, wenn sie dazu bestimmt ist dıe geschlechtliche Sinnlichkeit zu erregen. 
Ein wirkliches Kunstwerk ist darum ebensowenig jemals unzüchtig wie ein Werk der Wissenschaft. 
Selbstverständlich werden im einzelnen Falle Zweifel über die Unzüchtigkeit einer bestimmten 
Darbietung möglich sein. Aber je weniger engherzig die Behörden darüber urteilen, um so wirksamer 
werden sie die wirkliche Pornographie bekämpfen können. 
Den Sittlichkeitsdelikten gegenüber ist es nun Aufgabe der Polizei, zunächst die Begehung 
dieser Handlungen zu verhindern, so weit das möglich ist. Gerade gegenüber unzüchtigen Darbie- 
tungen ıst das besonders wıchtig — ıhre schädliche Wirkung kann durch nachträgliche Bestrafung 
nicht wieder aufgehoben werden. Die Mittel der Prävention sind natürlich verschieden je nach 
der Art der Darbietungen. Zunächst kommen dabei in Betracht dıe Aufführungen in Theatern, 
Tingeltangeln, Kinematographen usw. Hier gewähren die allgemeinen Vorschriften der Gewerbe- 
ordnung eine ziemlich weitgehende Möglichkeit der Überwachung von Unternehmern und Unter- 
nehmungen. Ausserdem aber kann die Polizei auf Grund ıhrer allgemeinen Befugnis eine Zensur 
ausüben und alle Vorführungen untersagen, die durch ihre Beschaffenheit, namentlich auch durch 
Verletzung des geschlechtlichen Anstandes, die öffentliche Ordnung stören. Tatsächlich wird von 
dıesem Recht auch regelmässig Gebrauch gemacht; ın welchem Umfange, das ıst freilich dem Takt- 
gefühl der einzelnen Behörden überlassen. Wünschenswert wären besondere Bestimmungen für 
Kınematographen, deren zunehmende Verbreitung keineswegs ausschliesslich erfreulich ıst. Wenn 
dıese Anstalten auch bei guter Leitung sogar ein wertvolles Bildungsmittel abgeben können, so 
legt doch die Möglichkeit, allerlei aufregende Vorgänge plastisch vorzuführen, die Versuchung zum 
Missbrauch sehr nahe. Das ist umso bedenklicher, als ein grosser Teil der Besucher aus unerwach- 
senen Personen besteht. Dass deren Entwicklung nicht bloss durch unzüchtige, sondern auch durch 
allerleı abenteuerliche Vorführungen leicht unerwünscht beeinflusst werden kann, ist klar. Es gilt 
hıer dasselbe wie bei der sog. Schundliteratur, deren Gefahren auch durchaus nicht in der Erregung 
der geschlechtlichen Phantasie allein zu finden sind. Bei den Kinematographen wäre es wohl 
erwägenswert, ob nicht ıhr Besuch Unerwachsenen überhaupt zu untersagen, oder wenigstens 
auf Vorstellungen zu beschränken wäre, deren Programm alle ‚sensationellen Nummern aus- 
schliesst. In diesem Sinne sind in der neusten Zeit in einzelnen Bundesstaaten Gesetze und Ver- 
ordnungen erlassen. Gründliche Abhilfe kann nur ein Reichsgesetz schaffen. 
Gegenüber unzüchtigen Presserzeugnissen steht der Polizei das Recht der vorläufigen Be- 
schlagnahme auf Grund $ 23 des Pressgesetzes zu. Die sachgemässe Ausführung wird erleichtert 
durch das internationale Abkommen zur Bekämpfung der Verbreitung unzüchtiger Veröffentlichun- 
gen vom 4. Maı 1910 (s. R. G. B. 1911 8. 209 ff.). Die beteiligten Regierungen (einstweilen Deutsch- 
land, Oesterreich-Ungarn, Belgien, Brasilien, Dänemark, Spanien, Vereinigte Staaten von Amerika, 
Frankreich, Grossbritannien, Italien, Niederlande, Portugal, Russland und Schweiz) verpflichten 
sıch darın, je eine Behörde einzurichten oder zu bezeichnen, der es obliegt, alle Nachrichten zu 
sammeln und mitzuteilen, welche die Ermittelung und Bekämpfung unzüchtiger Veröffentlichungen 
erleichtern, die Einführung solcher Gegenstände verhindern und deren Beschlagnahme sichern oder 
beschleunigen können, auch die Gesetze mitzuteilen, die mit Beziehung auf den Gegenstand des 
Abkommens erlassen sind oder noch erlassen werden. Diesen Behörden ist das Recht des unmittel- 
baren Verkehrs eingeräumt und ausserdem, soweit das nach den einzelnen Landesgesetzen zulässig 
ist, die Pflicht zur Mitteilung von Strafnachrichten über erfolgte Verurteilungen auferlegt. 
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