Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

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338 Felise Rachfahl, Dreibund und Dreiverband. 
  
  
der Ostküste des adriatischen Meeres zu befestigen, nach dem Besitze des Hinterlandes von Dal- 
matien, d. h. Bosniens und der Herzegowina. Als 1875 in diesen beiden Ländern ein Aufstand 
gegen dıe Pforte ausbrach, wurde die orientalische Frage wieder brennend, indem sowohl Russland 
als auch Österreich nunmehr die Gelegenheit für günstig erachteten, ihre Balkanpläne zu verwirk- 
lichen. Russland holte aus zu einem entscheidenden Vorstosse gegen die Pforte; da zeigte es sich 
bald, dass es sich dabei auf irgend eine Weise mit Österreich auseinandersetzen müsse. 
Von Deutschland hing es ab, ob Russland freie Hand für seine Orientpolitik gegen Österreich 
haben würde. Der Hauptgesichtspunkt der Politik Bismarcks nach 1871 war die Sicherung Deutsch- 
lands vor den Gelüsten Frankreichs nach Revanche und Rückeroberung Elsass-Lothringens. Um 
die Mitte der siebziger Jahre hatte er nun allerdings nicht mehr den Eindruck, als ob ın einem 
neuen deutsch-französischen Kriege noch ebenso, wıe 1870/71, auf eine wohlwollende Neutralität 
Russlands gerechnet werden könnte; auch hatten sich die persönlichen Beziehungen der leitenden 
Staatsmänner, Bismarcks und Gortschakows, damals verschlechtert. Fernerhin glaubte Bismarck, 
falls es zu einem österreichisch-russischen Orientkonflikte käme, nıcht dulden zu dürfen, dass 
Österreich dann seine Stellung als selbständige Grossmacht einbüsse, weil Russland dadurch ein 
auch für Deutschland schwer fühlbares Übergewicht in Europa erlangen würde. Im Sommer 1876 
machte Russland einen Versuch, sich mit Österreich-Ungarn in der Balkanfrage auseinanderzusetzen. 
Es fanden Verhandlungen zwischen dem Zaren und Gortschakow einerseits und Kaiser Franz Josef 
und Andrassy andererseits zu Schloss Reichstadt ın Nordböhmen statt; ihr Ergebnis war das sog. 
„bhesume des pourparles secrets de Reichstadt de 8. juillet 1876°, worin Russland zwar bei einem 
unglücklichen Kriege gegen die Türkei Österreichs Hilfe in Aussicht gestellt, betreffend Bosnien 
und die Herzogowina jedoch für alle Fälle bestimmt wurde, dass Österreich hier ein Landgewinn er- 
wachsen solle. Dieser Preis an Österreich für die Erlaubnis zum Angriffe auf die Hohe Pforte schien 
nun Russland doch wohl zu hoch, und so verlangte der Zar im Herbst 1876 von Bismarck 
peremtorisch eine Erklärung darüber, ob Deutschland ım Falle eimes russisch-österreichischen 
Krieges neutral bleiben würde. Kurz zuvor (im August 1876) hatte Bismarck dem Zaren ein Schutz- 
und Trutzbündnis angeboten; d. h. wenn Deutschland auf Russlands Hilfe gegen Frankreich 
rechnen konnte, wollte es seinerseits den russischen Orientplänen Vorschub leisten. Dieser Antrag 
war abgelehnt worden, und umsoweniger hatte Bismarck jetzt Lust, den des Zaren anzunehmen; 
er wich eine Zeitlang der Antwort aus und gab schliesslich (Mitte Oktober) den Bescheid, dass 
Deutschland eine Vernichtung der Grossmachtstellung Österreichs nicht dulden könne. Noch einmal, 
ım November, liess er bei Gortschakow sondieren, ob Russland gegen Unterstützung im Orient auf 
einen Grarantievertrag für Elsass-Lothringen eingehen wolle; Gortschakow wınkte ab. Auf dem 
parlamentarischen Diner vom 1. Dezember und in seiner Reichstagsrede vom 5. dieses Monats 
betonte Bismarck darauf mit aller Deutlichkeit, dass Deutschland Österreichs Bestand und Integri- 
tät nıcht antasten lassen würde. 
Damit war die Situation geklärt. Russland sah, dass auf Deutschlands unbedingte Neutralität 
nicht zu rechnen sei. Es konnte daher an Österreich nicht vorbei, sondern musste sich auf der 
Grundlage des Resumes von Reichstadt bei ıhm die Erlaubnis zum Kriege gegen die Türkei einholen; 
sie wurde erteilt durch die militärische Konvention zu Pest vom 15. Januar 1877 und die sog. 
convention additionelle vom 18. März zu Wien, die Österreich den Erwerb von Bosnien und der 
Herzegowina garantierte. Nun erst konnten die Russen losbrechen; als sie aber schliesslich mit 
rumänischer Hilfe den Sieg errangen, schlossen sıe den Frieden von Santo Stefano (3. März 1873), 
der die Ansprüche Österreichs ignorierte und ein autonomes Grossbulgarien als russischen Schutz- 
staat schuf, der auch den Russen für ihre Flotte den Bosporus und die Dardanellen freigab. Dagegen 
protestierten Österreich und England, und auf dem Berliner Kongress (Sommer 1878) musste 
Russland in der Tat ın allen diesen genannten Punkten zurückweichen: die Meeresstrassen blieben 
gesperrt; Bulgarien wurde verkleinert; Bosnien und die Herzegowina kamen an Österreich, und 
zwar lediglich aus Rücksicht auf die Pforte in der Form einer blossen Okkupation; im Sandschak 
Novi-Bazar erhielt Österreich militärisches Besatzungsrecht. 
In Russland wurde die Schuld an diesem Ausgange des Krieges Deutschland zugeschrieben, 
das man der Undankbarkeit bezichtigte, da ja die Voraussetzung für die Ereignisse von 1866 und 
  
  
  
  
  
  
  
 
	        
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