Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

  
30 Fritz Stier-Somlo, Die deutsche Arbeiterversicherung. 
  
  
besondere eine Zusatzversicherung, die gegen Zahlung einer besonderen Zusatzmarke geeignet ist, 
den freiwillig höhere Aufwendungen machenden Arbeitern eine Rente zu sichern, deren Höhe 
weit über derjenigen stehen kann, die auf Grund obligatorischer Leistungen zu erzielen ist. Aber 
auch sonst ist auf dem Boden der Invalidenversicherung, wie wır sehen werden, mancherlei Neues 
geschaffen worden. 
Vielleicht am wenigsten ist von der Reform — obwohl auch hier die einzelnen Verbesse- 
rungen nicht zu unterschätzen sind — die Unfallversicherung berührt worden. Auf sie wird ebenfalls 
zurückzukommen sein. 
Den Kernpunkt der ganzen Reform aber bildet de Krankenversicherung. Es 
ist gänzlich neu, dass obligatorisch einbezogen werden die häuslichen Dıienstboten. Diese 
hatten bisher eine völlig unzureichende sozialpolitische Fürsorge erhalten durch die Gesindeord- 
nungen, welche nicht bloss in den einzelnen Staaten Deutschlands, sondern auch ın den einzelnen 
Provinzen unter sich sehr verschieden und auf alle Fälle unzulänglich waren. Von grosser Wichtig- 
keit ist sodann die Hereinbeziehung der land- und forstwırtschaftlichen Ar- 
beiter, die bisher nur fakultativ durch Landesgesetz oder Statut versichert werden konnten. 
Tatsächlich ist von diesen Ermächtigungen nur ein ganz geringer Gebrauch gemacht worden. 
Es ist auch politisch nunmehr von der grössten Bedeutung, dass dıe landwırtschaftlichen Arbeiter 
organisiert werden. Mag diese Organisation auch eine zunächst mangehafte sein, so wird sie doch 
politisch auszuwirken nicht verfehlen. Sodann kommen als versicherungspflichtig noch hinzu die 
sog. unständigen Arbeiter, welche der Natur der Sache nach oder auf Grund eines Vertrages 
kürzere Zeit als eine Woche beschäftigt sind, dann diejenigen, de im Wandergewerbe 
tätig werden. Nicht zuletzt ist aber noch wichtig, dassauch de Hausgewerbetreiben- 
den mit einbezogen sınd, d. h. diejenigen Personen, welche zwar nach der juristischen Kategorie 
Arbeitgeber, nach der wirtschaftlichen aber kaum mehr als Arbeiter sind. So erweitert sich der 
Kreis der gegen Krankheit Versicherten ganz enorm, die sozialpolitischen Lasten werden erhöht, 
aber auch die Segnungen vertieft und erweitert. 
Nicht minder gehört zu der Reform der Krankenversicherung, dass der Versuch gemacht 
worden ist, einer parteipolitischen Ausbeutung der Kasseneinrichtungen entgegenzutreten. Die 
Arbeitgeber haben eine etwas grössere Macht erhalten, doch ist andererseits dafür gesorgt, dass die 
sozialpolitischen Leistungen nıcht geschmälert werden. 
Die Vıelheit der Kassenarten ist geblieben; allerdings wurde de Gemeindekranken- 
versicherung beseitigt. Es war dies eine Organisationsform, die die Gemeinde als Inhaberin 
der Kassenrechte und -Verptlichtungen erscheinen liess, aber die geringsten Leistungen gewährte 
und auch Zuschüsse von der gemeinde nötig machte. Anstelle dieser Kassenart sind aber die Lan .d- 
krankenkassen eingefügt worden, in welche aufgenommen werden die in land- und forst- 
wirtschaftlichen Betrieben, im Wandergewerbe, in der Hausindustrie usw. beschäftigten Personen. 
Das Selbstverwaltungsrecht ist in der Landkrankenkasse über Gebühr eingeschränkt worden. 
Man kann hier nicht von einer besonders glücklichen Lösung des Problems reden. 
Als der Haupttypus wird de Ortskrankenkasse anzusehen sein, während die 
Betriebskrankenkasse vom Gesetz zwar geschont worden ist, aber dennoch nur als 
eine sekundäre Einrichtung in Betracht kommt. Die Baukrankenkassen sınd als solche 
beseitigt und bilden nur eine Abart der Betriebskrankenkassen. Doch blieben noch ferner erhalten 
de Knappschafts- und Innungskrankenkassen, während die freien Hilfskassen 
als solche mit dem 1. Juni 1912 aufgehoben wurden und nur als Versicherungsvereine auf Gegen- 
seitigkeit nach Massgabe des Versicherungsaufsichtsgesetzes v. 12. Mai 1901 weiterbestehen können. 
Damit haben sie eine Unterstellung unter die Aufsicht des Reiches erfahren. Vielfach vorhandenen 
schwindelhaften Unternehmungen wird damit entgegengewirkt. Als Ersatzkassen müssen die Ver- 
sicherungsvereine bestimmten Voraussetzungen ($$ 503 ff.) genügen. Die Mannigfaltigkeit der 
Organisation ist auf die historische Entwicklung und darauf zurückzuführen, dass den verschieden- 
sten Formen der Arbeiterorganisationen Genüge geschehen sollte. Von weiteren Reformen des 
Krankenversicherungsrechtes wird weiter unten zu reden sein. 
  
  
  
  
  
  
  
  
  
 
	        
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