Georg von Schans, _Arbeitslosenversicherung.
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in Betracht kommen, aus, so kann man fast auf jede Familie 2 rechnen. Die Guthaben betrugen
17,8 Milliarden Mark; hiervon trifft ein grosser Teil auf die arbeitende Bevölkerung. Ein sehr ver-
ständiger Weg ıst auch der von dem Hamburger Konsum-, Bau- und Sparverein ‚Produktion‘ seit
1899 eingeführte, die Einkaufsdividende am Ende des Jahres nicht bar zu verteilen, sondern den
Anteil, der auf jedes Mitglied trifft, dessen Notfonds zuzuschreiben; der über 100 M. angesammelte
Betrag gilt als täglıch kündbare Spareinlage, der unter 100 M. kann ın Notfällen, wozu auch Arbeits-
losigkeit gehört (10 %, auch Weihnachten), abgehoben werden. 1909 hatten 15 456 Mitglieder einen
Notfonds von 514 178 M., 6642 entnahmen 176 944 M. Kıel, Lübeck u. a. haben das Beispiel bereits
nachgeahmt.
Ob man diese Ansätze nicht zu einem Sparzwang mit Sperrung bis zu einer gewissen Summe
weiter entwickeln und dadurch eine obligatorische Vorsorge erzielen könnte und sollte, bleibt zu
überlegen. Begrenzt in ihrer Wirkung sind sowohl Sparzwang als Arbeitslosenversicherung. Kanı
die letztere eine etwas längere Fürsorge gewähren, als ersterer, so Ist sie umgekehrt erheblich ein-
geengter, insofern sie, um den Missbrauch hintanzuhalten, die Bezugsberechtigung einschränken
muss. Die besondern Schwierigkeiten, welche eine obligatorische Arbeitslosenversicherung bietet,
fallen bei dem Sparzwang weg und nichts stünde ım Wege, dass dıe Facharbeiterverbände diese
Fürsorge durch Versicherung ergänzten. Alleın der Zug der Zeit und die Neigung der politischen
Parteien scheinen ‚nur in einer allgemeinen obligatorischen Arbeitslosenversicherung ihre Befrie-
digung finden zu können. Ein neuester Vorschlag wıll als Provisorium bis zur Schaffung einer
regelrechten Arbeitslosenversicherung eine Unterstützung jener Arbeiterorganisationen, welche
ihre Mitglieder gegen Arbeitslosigkeit versichern, und den Dparzwang für die nichtorganisierten
Arbeiter eingeführt wissen.')
Erwünschterjals die Arbeitslosenversicherung ıst unstreitig dıe Verhütung und Unter-
drückung.der Arbeitslosi okeit. So hilflos wırauch noch In dieser Hinsicht dastehen, so istdoch schon
mancher Fortschritt erzielt > worden. Vor allem sind dieschweren akuten Krisen mit ihren verheerenden
Wirkungen infolge der strengeren Aktien- und Börsengesetzgebung und zügelnder Einwirkung der
Zentralnotenbanken mehr und mehr durch die milder verlaufenden Depressionen abgelöst worden ;
auch die Kartelle mögen, so manches man auch ıhnen zum Vorwurf machen kann, einiges zur
grösseren Stetigkeit des Erwerbslebens beitragen. In Gemeinde und Staat wächst das Verständnis
für eine rationellere Verteilung der öffentlichen Arbeiten. Durch entsprechende Arbeitsverschiebung
können sie nicht nur die Arbeitslosigkeit des Winters abstumpfen, sondern auch die allgemeinen
Depressionen mildern, was auch finanziell sıch sehr lohnt. In dieser Hinsicht sind noch grossa Fort-
schritte erzielbar. Nicht minder können die Unternehmer die gänzliche Arbeitslosigkeit verhüten,
wenn sie bei schlechter Konjunktur, statt einen Teil der Arbeiter zu entlassen, die Produktion ein-
schränken entweder durch Reduktion der täglichen Arbeitszeit oder durch Ausfallenlassen ein-
zelner Tage oder durch Bildung von Gruppen, welche ın regelmässigem Wechsel und zeitweise
ausser Arbeit gesetzt werden. Dieser Modus, der ın England in der Textil- und Kohlenindustrie
allgemein angewandt wird, liegt auch im Interesse der Arbeitgeber, insofern er einen festen Arbeiter-
stamm schafft. Das neue englische Gesetz sieht, wie schon erwähnt, Vergünstigungen vor, wenn
statt Entlassung verkürzte Arbeitszeit eingeführt wird. Eine obligatorische Minimalkündigungsfrist
würde viele Poren der Arbeitslosigkeit verstopfen. Ebenso ein gut und durchgreifend organisierter
Arbeitsnachweis. Arbeiterkolonien, Wanderarbeitsstätten, Notstandsarbeiten vermögen eiucn
Teil der Arbeıtslosiekeit aufzusaugen. Ländliche Arbeitsbeschaffung für städtische Arbeitslose
ın der Nähe einer Grossstadt durch Inkulturnahme von Oedländereien nach dem in Reppen
von dem Verein für soziale innere Kolonisation Deutchlands seit 1. Januar 1912 durchge-
führten Modus ist, wie die Erfahrung zeigt, gleichfalls nützlich. Gute Berufsausbildung,
Verhinderung der Verwahrlosung der Jugend mindern den Zuwachs der Arbeitslosen. Schliesslich
sind die ganze Organisation eimer Volkswirtschaft — Kleinbesitz in der Landwirtschaft erzeugt
z. B. weniger Arbeitslosigkeit, als Grossbesitz —, die Tüchtigkeit eines Volks und die Art, wiıe
es seine Stellung ım internationalen Erwerbsleben behauptet, von Einfluss.
PER
1) K. Kampmann, Die Reichsarbeitslosenversicherung. Tübingen 1913.