«0. Abschnitt.
Die Wohnungsfrage.
Von
Dr. Ludwig Pohle,
Professor der Staatswissenschaften an der Akademie zu Frankfurta. M.
Literatur:
Andreas Voigt und Paul Geldner, Kleinhaus und Mietkaserne, Berlin 1905. — K. von
Mangoldt, Die städtische Bodenfrage, Göttingen 1907. — C. J. Fuchs, Zur Wohnungsfrage, Leipzig 1904.
— W.Gemünd, Bodenfrage und Bodenpolitik, Berlin 1911. — K. Eberstadt, Handbuch des Wohnungs-
wesens, 2. Aufl., Jena 1910. — J. Stübben, Der Städtebau, 2. Aufl., Stuttgart 1907. — Adolf Weber,
Boden und Wohnung, Leipzig 1908. — H. Chr. Nussbaum, Die Hygiene des Wohnungswesens, Leipzig 1907.
— D. Pesl, Das Erbbaurecht, Leipzig 1910. — L. Pohle, Die Wohnungsfrage, Leipzig 1910 (Sammlung
Göschen, 2 Bändchen),
Die Wohnungsfrage verdankt den hervorragenden Platz, den sie gegenwärtig in der öffent-
lichen Erörterung einnimmt, dem raschen Aufblühen des Städtewesens und den tiefgehenden Wand-
lungen der Wohnweise der grossstädtischen Bevölkerung während des letzten Jahrhunderts, ins-
besondere in seiner zweiten Hälfte. Sie ıst ın erster Linie eine grossstädtische Angelegenheit.
Damit soll indessen nicht etwa gesagt sein, dass die Wohnungsverhältnisse auf dem Lande und
in Kleinstädten besser seien als ın der modernen Grossstadt. Vielmehr ist gerade das Gegenteil
richtig, wie schon verschiedentlich nachgewiesen worden ist.!) Es ist auch nicht der Umstand, dass
die Wohnungszustände eines grossen Teils der grossstädtischen Bevölkerung ın hygienischer und sitt-
licher Beziehung überall noch sehr mangelhaft erscheinen, was der Wohnungsfrage in der Gegenwart
ihre besondere Stellung verleiht. Dass in einer grossen Stadt immer ein Bruchteil der Bevölkerung
In hygienisch und sittlich bedenklichen Wohnungsverhältnissen sich befindet, das erscheint, wie
jetzt wohl auf allen Seiten?) anerkannt wird, als ein nicht zu vermeidendes Übel, so lange es über-
haupt noch menschliche Not und menschliche Verwahrlosung gibt. Denn diese werden äusserlich
stets in der Form von Wohnungselend am meisten sichtbar werden. Was die Wohnungsfrage in
neuester Zeit in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt, auch zur Veranstaltung von nationalen
und internationalen Wohnungskongressen®) den Anlass gegeben hat, das ıst vielmehr folgendes:
In weiten Kreisen ist man gegen das Wohnungswesen in der modernen Grossstadt und alles, was damit
zusammenhängt, das jetzige Verfahren der Stadterweiterung, die private Bautätigkeit usw., kri-
tisch gestimmt worden; man glaubt an der Art und Weise, wie die Befriedigung des Wohnbedürf-
nisses in den Grossstädten sich vollzieht, schwerwiegende Mängel allgemeiner Art feststellen zu
können, insbesondere erhebt man den Vorwurf, dass die Wohnungen bei dem jetzigen System un-
nötig teuer sind. Man ist schliesslich dahin gekommen, die Frage aufzuwerfen, ob die Entwicklung
der Wohnweise in den Städten überhaupt eine zweckmässige gewesen ist und ob die städtischer
Wohnungszustände sich notwendig so gestalten mussten, wie sie geworden sind. Am weitesten
ın dieser Richtung geht die Bodenreformbewegung, deren Anhänger für die jetzigen Zustände ım
1) S. z. B. die Angaben in meiner „Wohnungsfrage“, Bd. II, S. 28 ff.
2) Vgl. hierzu das charakteristische Zugeständnis von Eberstadt im „Handbuch der Hygiene‘.
4. Supplementband, S. 343, sowie die Äusserungen von Gem vünd (Bodenfrage und Bodenpolitik, S. 280/81),
Obwohl beide Autoren sonst auf ganz entgegengesetztem Standpunkt stehen, kommen sie hier doch zum
gleichen Resultat.
*) Der IX. Internationale Wohnungskongress fand 1910 in Wien statt, der erste allg. deutsche 1904 ın
Frankfurt a. M., der zweite Pfingsten 1911 in Leipzig.