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Der Kaiser und das deutsche Volk.
1. Quelle: Die Thronrede bei Eröffnung des Reichstages
am 4. August 19141).
Fundort: Kriegsdepeschen. Bd. 1. S. 19—21.
Geehrte Herren! In schicksalsschwerer Stunde habe ich die gewählten Ver-
treter des deutschen Volkes um mich versammelt. Fast ein halbes Jahrhundert
lang konnten wir auf dem Wege des Friedens verharren. Versuche, Deutschland
kriegerische Neigungen anzudichten und seine Stellung in der Welt einzuengen,
haben unseres Volkes Geduld oft auf harte Proben gestellt. In unbeirrbarer
Redlichkeit hat meine Regierung auch unter herausfordernden Umständen die Ent-
wicklung aller sittlichen, geistigen und wirtschaftlichen Kräfte als höchstes Ziel ver-
folgt. Die Welt ist Zeuge gewesen, wie unermüdlich wir in dem Drang und den
Wirren der letzten Jahre in erster Reihe standen, um den Völkern Europas einen
Krieg zwischen Großmächten zu ersparen.
Die schwersten Gefahren, die durch die Ereignisse am Balkan heraufbeschworen
waren, schienen überwunden. Da tat sich mit der Ermordung meines Freundes,
des Erzherzogs Franz Ferdinand, ein Abgrund auf. Mein boher Verbündeter, der
Kaiser und König Franz Joseph, war gezwungen, zu den Waffen zu greifen, um
die Sicherheit seines Reiches gegen gefährliche Umtriebe aus einem Nachbarstaat
zu verteidigen. Bei der Verfolgung ihrer berechtigten Interessen ist der ver-
bündeten Monarchie das russische Reich in den Weg getreten. An die Seite
Osterreich-Ungarns ruft uns nicht nur unsere Bündnispflicht. Uns fällt zugleich die
gewaltige Aufgabe zu, mit der alten Kulturgemeinschaft der beiden Reiche unsere
eigene Stellung gegen den Ansturm feindlicher Kräfte zu schirmen.
Mit schwerem Herzen habe ich meine Armee gegen einen Nachbar mobilisieren
müssen, mit dem sie auf so vielen Schlachtfeldern gemeinsam gefochten hat. Mit
aufrichtigem Leid sah ich eine von Deutschland treu bewahrte Freundschaft zer-
brechen. Die Kaiserlich russische Regierung hat sich, dem Drängen eines unersätt-
lichen Nationalismus nachgebend, für einen Staat eingesetzt, der durch Be-
günstigung verbrecherischer Anschläge das Unheil dieses Krieges veranlaßte. Daß
auch Frankreich sich auf die Seite unserer Gegner gestellt hat, konnte uns nicht
überraschen. Zu oft sind unsere Bemühungen, mit der französischen Republik zu
freundlicheren Beziehungen zu gelangen, auf alte Hoffnungen und alten Groll
gestoßen.
Geehrte Herren! Was menschliche Einsicht und Kraft vermag, um ein Volk
für die letzten Entscheidungen zu wappnen, das ist mit Ihrer patriotischen Hilfe
geschehen. Die Feindseligkeiten, die im Osten und im Westen seit langer Zeit um
sich gegriffen hat, ist nun zu hellen Flammen aufgelodert. Die gegenwärtige Lage
ging nicht aus vorübergehenden Interessenkonflikten oder diplomatischen Kon-
stellationen hervor, sie ist das Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übel—
wollens gegen Macht und Gedeihen des Deutschen Reiches.
Uns treibt nicht Eroberungslust: uns beseelt der unbeugsame Wille, den Platz
zu bewahren, auf den Gott uns gestellt hat, für uns und alle kommenden Geschlechter.
1) Die Eröffnung des Reichstages erfolate im Weißen Saale des Königl. Schlosses
zu Berlin durch den Kaiser, der dabei die nachfolgende Thronrede verlas.