F. Die Ausführung des Rechtes. III. Die Geschichte des Rechtes. 63
richt gewisse Folgen des geltenden Rechtes, die ihm sachlich unrichtig er-
scheinen mögen, entscheidend feststellen soll, und nimmer wäre es gut getan,
wenn die Urteiler dann so lange an dem unliebsam ordnenden Artikel des Ge-
setzes herumbiegen wollten, bis jene Folgen beiseite gebracht sein würden. So
lehrt die systematische Besinnung auf die mögliche Richtigkeit eines Rechtes
und ihre methodische Bewährung im kritischen Bewußtsein ganz und gar nicht
ein Zurücktreten oder Abdanken von geltendem unrichtigem Rechte, son-
dern hebt diese notwendige Unterscheidung und die Bedeutung der sicheren
Geltung des gesetzten Rechtes, wie es da ist und in Geltung steht, erst recht
hervor.
Freilich tritt nun stets auf das Neue die eigene Aufgabe hervor: sich mit
der Durchsetzung eines geltenden, aber unrichtigen Rechtes überall abzufinden.
In leichteren Fragen mag dies nicht zu beengend sein und kann der Zwiespalt,
den wir nannten, mit Ernst, mit Ärger oder auch mit Humor ob der Bedingt-
heit jedes besonderen Rechtsinhaltes getragen werden. Aber auch schwere und
wahrhaft tragische Konflikte hat die Geschichte oft gesehen: im Schicksal der Konflikt
Antigone, wie bei dem Anlaß des Apostelwortes, daß man Gott mehr gehorchen Puchen en
müsse, als den Menschen, und in so vielen gleichen Erlebnissen durch alle Zeit- tigem Rechte
alter hindurch, die hinter uns liegen, und wohl auch weiterhin, solange Men-
schen sein werden.
Dieser Konflikt ist sachlich nicht zu lösen.
Denn ein geltendes Recht kann nicht darauf verzichten, daß es unverbrüch-
lich und unverletzbar geachtet und verwirklicht werde, solange es in Geltung
steht und nicht durch neues Recht abgelöst ist. Es würde mit sich selbst in
Widerspruch treten und zur ‚Willkür‘ werden, falls es zuließe, im Sonderfall
gebeugt und gebrochen zu werden, um im ganzen doch weiter zu gelten: „Es
würde als ein Vorgang angeführt, und mancher Fehltritt nach demselben Bei-
spiel griff um sich in dem Staat; es kann nicht sein.‘‘ Und weiter: Das Recht
muß diesen Anspruch der Unverletzbarkeit während seiner Geltung
aufrechthalten, weil es mit seinem selbstherrlichen Anordnen die all-
gemeine Bedingung für gesetzmäßige Ausgestaltung des gesellschaftlichen
Daseins, für richtiges soziales Wollen ist (E. 6). So würde es ein Widersinn
sein, diese Bedingung aufzuheben und in ihrem Wesen zu verneinen und damit
gerade das von ihr Bedingte, die rechte Art des Zusammenwirkens zu er-
reichen. ‚Recht muß doch Recht bleiben.‘
Auf der anderen Seite steht gegenüber der Unverletzbarkeit das Unfertige
und notwendig Unvollkommene des bedingten Inhaltes eines Rechtes. In
dieser seiner Besonderheit kann ein rechtliches Regeln für den Menschen
mit Grund nicht beanspruchen, das unbedingte Gesetz der Zwecke des Einzel-
nen zu sein. Hier gilt der Satz der Alten: Summum ius summa iniuria — zu
deutsch: Ein besonderes, bedingtes Rechtsgebot, als unbedingt höchste Norm
für menschliches Wollen behauptet, ist das größte Unrecht. Nicht der Kampf
um ein gewisses Recht, bloß weil und wie es gerade da ist, bedeutet für das
prinzipiell begründete Wollen des Menschen ein Pflichtgebot, sondern nur ein