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sondern er ist auch noch insofern Bekenner der jüdischen Weltanschauung
gewesen, als er wohl anfänglich selbst an einen jüdischen Messias ge-
glaubt hat, der mit Gottes oder des Teufels Hilfe den Juden die Welt
erobern sollte, denn er selbst wurde ja vom Satan versucht, ihn anzu-
beten, wofür dieser ihm alle Reiche der Welt mit aller Herrlichkeit
verschaffen wollte. Auch bei seiner Gefangennahme soll er geäußert
haben, daß, wenn er seinen Vater bittet, ihm dieser mehr denn zwölf
Legionen Engel schicken würde. Damit aber die Schriften der Pro-
pheten erfüllet würden, hat er das letztere nicht getan. Ferner soll er
sich sogar Sohn Davids haben nennen lassen, um den Juden als der
richtige Messias zu erscheinen. Selbstverständlich ist dies alles vom
historischen Standpunkt aus nur Ccum grano salis zu nehmen, da. wie
bereits bemerkt, die Evangelien, als tendenziöse Machwerke der ersten
Christen, in dieser Beziehung einen sehr fragwürdigen Wert haben
und mehr die Ansichten und Absichten der christlichen Epigonen als
diejenigen Christi offenbaren.
Mit Sicherheit ist dagegen anzunehmen, daß Christus die Näch-
stenliebe nicht nur innerhalb der Glaubens- und Stammesgenossen
predigte, sondern für den Menschen überhaupt. Christus hat in einem
entarteten Egoismus die Quelle aller Sünde und Schlechtigkeit erkannt
und im Altruismus, der die Liebe zur Gattung über die Eigenliebe
stellt, die alleinige Besserung und Gottgefälligkeit der Menschen ge-
sehen. Diesen Standpunkt betont besonders der Apostel Paulus und
zwar sowohl in seinem Briefe an die Römer als auch an die Korinther
in folgenden Worten: „Seid niemand nichts schuldig, denn daß ihr
euch untereinander liebet, denn wer den anderen liebet, der hat das
Gesetz erfüllet. Denn das da gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen; du
sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis
geben; dich soll nicht gelüsten und so ein ander Gebot mehr ist, das wird
in diesem Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben als
dich selbst.“ Als Leitfaden hierfür hat Jesus ferner gelehrt, daß das
Reich Gottes mit dem ewigen Leben kein irdisches sondern ein himm-
lisches ist, und daß jeder daran teilnehmen kann, der daran glaubt und
danach handelt. "
Diese Lehre bildet die eigentliche Quintessenz des Christentums,
soweit dieses vom Stifter selbst hergeleitet werden kann, denn die obigen
paulinischen Briefe mit einigen anderen sind die einzigen Dokumente
des neuen Testaments, deren historische Zuverlässigkeit einigermaßen
verbürgt ist. . , ,
Jefus hat gewissermaßen aus dem jüdischen Gott-Herrn einen
Gott-Vater gemacht. Die Juden standen im Gefühl ihrer Unverbesser-
lichkeit zu ihrem Gott in einem Untertanenverhältnis, das durch Ver-