Full text: Rechtslexikon. Erster Band. Aagesen - Fungible Sachen. (2.1)

142 Armengesetzgebung. 
Von den ersten bekannten Anfängen an hat die menschliche Gesellschaft 
die Abhülfe der Armuth als Gegenstand einer allgemeinen Pflicht anerkannt. 
Theokratien haben das sittliche Gebot zu einem absoluten (göttlichen) erhoben und 
charakterisiren sich durch die unterschiedslose Behandlung der Armenunterstützung als 
Selbstzweck. Die bekannten Vorschriften des Judenthums bilden ein zwangsweises 
Armenbudget, mit ausführlichen Vorschriften über die Pflicht, Aimosen zu geben, 
und über das Recht Unterstützungen zuempfangen. Unter den Mohammedanischen 
Völkern ist diese Art der A. nach Maßgabe des Koran noch heute das offiziell 
anerkannte Recht. 
Die Germanischen und Romanischen Völker des Mittelalters sind 
bereits zu einer rationelleren Scheidung gelangt, indem sie für die humanen Auf- 
gaben des Gemeinwesens einen eigenen Organismus in der christlichen Kirche bilden, 
der alle Klassen der Gesellschaft unter einem streng geregelten Amtssystem in sich 
aufnimmt. Dem letzteren Organismus fällt die Armenpflege zu, für welche die 
Kirche aus ihren reichen Dotationen einen Fonds bildet, der freilich mit dem Fort- 
schritt der Zeit durch übermäßige Centralisation einerseits, durch die sporadische 
Vertheilung der grundbesitzenden Stiftungen andererseits, noch mehr aber durch 
ständische Interessen, seinen ursprünglichen Zwecken entfremdet, in den späteren 
Jahrhunderten des Mittelalters mehr zu einer Quelle als zu einer Abhülfe 
der Armuth wird. In dieser Periode der Entartung der kirchlichen Armenpflege 
beginnt die schrittweise Uebernahme der humanen Aufgaben des Gemeinwesens auf 
das Laienthum, das wachsende Bewußtsein, daß nicht ein zwiespältiger, sondern ein 
einheitlicher „Staat“ berufen sei, durch das Zusammenfassen aller Volkskräfte 
diejenigen Lebenszwecke des Volkes zu fördern, welche durch die Kräfte des Einzelnen 
nicht erfüllt werden können. Es scheiden sich ferner die Maßregeln des Staats, 
welche mit obrigkeitlichem Zwang die unrechte Armenpflege hindern (Armen- 
polizei), von den Maßregeln, welche die richtige Weise der Unterstützung regeln 
(Armenpflege). Es beginnt damit eine überaus umfangreiche A., deren Ver- 
schiedenheiten auf einer Scheidung verschiedener Gründe der Armuth und auf der 
Verbindung von Staat, Kirche und Gemeinde für die Zwecke der Armenpflege be- 
ruhen. In dem hier gegebenen Raum ist indessen eine Beschränkung auf die drei 
großen Kulturländer Europa's geboten. 
I. Die Englische A. hat bis zum Schluß des Mittelalters die Scheidung 
des negativen und des positiven Elements der Armenpflege festgehalten. Sie hat 
die letztere der Kirche und der von der Kirche geleiteten Privatwohlthätigkeit über- 
lassen, während die Gesetzgebung seit Eduard III. nur die Abwehr des Bettelns 
und Vagabundirens zum Gegenstand hat. — Erst mit 27 Henry VIII. c. 25 
übernimmt der Staat auch die positive Armenpflege, indem er die Hundertschaften, 
Städte und Kirchspiele verpflichtet, „die Armen durch Almosen so zu unterhalten, 
daß sie nicht genöthigt seien öffentlich zu betteln“". Geistliche und Kirchenvorsteher 
sollen die dazu nöthigen Sammlungen veranstalten. Das Amt, die Arbeitsfähigen 
zu beschäftigen, den Arbeitsunfähigen zu helfen, wird den Kirchenvorstehern „oder 
zwei Anderen aus dem Kirchspiel“ auferlegt. Mit diesem Gesetz ist die spätere 
Kirchspielsarmenpflege in den wesentlichen Grundzügen schon fundirt. Die nächste 
Veranlassung dazu lag in der frühzeitigen Verwandlung der gebundenen in freie 
Arbeit, welche zeitweise große Fluktuationen und Nothstände der Arbeiter veranlaßte. 
Die unter den Tudors wieder konsolidirte Monarchie fühlte in dieser Epoche den 
Beruf, in diesem Hauptgebiet die humanen Aufgaben der Kirche in sich aufzunehmen. 
Tie unmittelbar darauf erfolgende Aufhebung der Klöster machte große Schwärme 
von Bettlern mobil, und die Fürsorge der Gesetzgebung um so dringlicher. Die 
massenhafte Säkularisation des Kirchengutes fügte noch eine moralische Verpflichtung 
des Staats hinzu. — Eben deshalb blieb die Gesetzgebung auf dem einmal ein- 
geschlagenen Wege. Unter Eduard VI. wurde noch einmal die Förderung der kirch-
	        
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