144 Armengesetzgebung.
Friedensrichter durch ein sporadisches Eingreifen keine andere Richtung gaben. Die
Armenlast wurde dadurch eine bloße Geldfrage, ein Hauptstreitpunkt der Lokal-
interessen, welche das Niederlassungsrecht in unerträglicher Weise verwickelten. Aus
allem Streit der Einzelinteressen heraus kam die Parlamentsgesetzgebung immer nur
zu Palliativen, welche augenblicklich den Ueberlasteten erleichterten, den Druck auf
die arbeitenden Klassen aber bald nur verschlimmerten. Das Nothmittel der „Orts-
angehörigkeitsatteste“ mußte immer verderblicher auf die Lage der fleißigen Arbeiter
zurückwirken. Nirgends verfolgt diese spätere Gesetzgebung einen zusammenhängenden
Plan zur Erhöhung der Gesammtarbeitskraft des Volks, sondern die Gesichtspunkte
einer regierenden Klasse, welche um Vertheilung der Armenlast streitet. Arbeits-
herren wie Armenaufseher sind nur bestrebt, die Entstehung aller Verhältnisse zu
hindern, durch welche der Arbeiter ein Niederlassungsrecht erwerben könnte. Die
möglichste Ausbeutung der Arbeitskraft, unter Vermeidung der Gefahr einer Er-
höhung der Armenlast, führt einerseits zu einem bellum omnium contra omnes;
während fie andererseits dem Arbeiter nicht nur die Gelegenheit, sondern auch die
Neigung benimmt, außerhalb seines Arbeitsorts eine lohnende Thätigkeit zu finden.
Gerade den Städten, in welchen jetzt die industrielle Gesellschaft zu keimen be-
gann, fehlte in England der Kommunalsinn, die Gewöhnung an eine selbstthätige
Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten des Nachbarverbandes. Auf dem Höhe-
punkt der Parlamentsregierung wird auch ihre Schwäche sichtbar, daß sie neuen
Bedürfnissen der Gesellschaft schwer gerecht zu werden vermag. Die aus dem In-
teressenstreit hervorgehende Majoritätsregierung entschließt sich zu ernstlichen Re-
formen erst, wenn die Mißstände bis zur Unerträglichkeit gestiegen sind. Sporadisch
war dieser Zustand schon eingetreten, seitdem das sogenannte Allowance-System
angefangen hatte den Lohnarbeitern nach Verhältniß der Lebensmittelpreise einen
Zuschuß aus der Armenkasse für jeden Kopf der Familie zu bewilligen, und damit
die Armensteuern der Gemeinde in einen Zuschuß für die Arbeitgeber zu ver-
wandeln. Eine lokale Abhülfe wurde nun durch Gilbert's Act und durch die
Select Vestries Act in solchen Gemeinden geschaffen, welche die Annahme des
neuen Gesetzes beschlossen, und zwar in der Weise, daß den Gemeindesteuerzahlern
die Befugniß ertheilt wird, durch gewählte Verwaltungsräthe aus ihrer Mitte die
Armenfonds rationeller zu verwalten. Inzwischen war dennoch die Armenlast im
J. 1818 bis auf annähernd 8 000 000 K gestiegen. Es bedurfte erst einer durch-
greifenden Umbildung der Staatsverfassung durch die Reform-Bill und einer
völligen Verwilderung der Kirchspielsarmenpflege, ehe sich die regierende Klasse
entschloß, ein neues Verwaltungssystem auf England und Wales als Ganzes
auszudehnen.
Das Englische Armengesetz von 1834 ist auf diesem Wege zu keinem
organischen Anschluß an die älteren Institutionen des Staats gelangt, sondern nur
zu einer Verwirklichung der sozialen Ideen der englischen Mittelstände, insbesondere
der städtischen Bevölkerungen, denen in der Neubildung der Gesellschaft ein kom-
munaler Gemeinsinn am meisten fehlt. Die Einseitigkeit einer wirthschaftlichen
Verwaltung, welche in den mechanischen Bureaukratismus verläuft, charakterisirt die
neu gestaltete Armenpflege. Das neue Gesetz macht, als Probirstein der Arbeits-
sähigkeit, die Aufnahme des Unterstützungsuchenden in ein Armenarbeitshaus
zur Regel, die Hausunterstützung zur Ausnahme; jedoch ist in Milderung der großen
Härten des Armenhaussystems jene Regel in immer zahlreicheren Fällen durch-
brochen worden Der Chef des Staatsarmenamts führt die „Direktion und Kon-
trolle“ der gangen Armenverwaltung durch Generalregulative und Reskripte, welche
für die Einzelverwaltung die maßgebende Autorität bilden. Zwölf Staatsinspektoren
und 50 Rechnungsrevisoren verbinden die Centralstelle mit der Ortsverwaltung,
die in dem besoldeten Sekretär (clerk) des Kreisarmenverbandes als dem eigent-
lichen Verwaltungsdirektor ihren Schwerpunkt findet. Unter „ihm agiren die be-