Full text: Rechtslexikon. Erster Band. Aagesen - Fungible Sachen. (2.1)

370 Beweistheorie. 
richt eine Zusammenstellung der zum Beweise angerufenen Zeugen, Sachverständigen 
(Dolmetscher und superarbitri eingeschlossen), Auskunftspersonen, Ueberführungsstücke 
und Urkunden (z. B. Vorstraflisten, Vorstrafurtheile, gerichtliche Geständnisse, ver- 
lesbare Aussagen) zu verbinden. Es bezweckt dies, dem Richter die Orientirung, 
dem Beschuldigten die Vertheidigung (und im Deutschen R. StrafPrz. dem Staats- 
anwalt und Amtsanwalt den künftigen Ladungsbeschluß) zu erleichtern; eine An- 
klage ohne B. wäre zur Ergänzung zurückzugeben. Nachgeschobene Beweismittel 
sind dem Prozeßgegner gleichfalls rechtzeitig (in Oesterreich spätestens 3 Tage vor 
der Hauptverhandlung) kund zu machen, geeigneten Falls in einer Nachtragsliste, 
und es bestehen Vertagungsrechte zum Schutz gegen Ueberraschung durch Beweis- 
neuheiten. Die in den B. aufgeführten Beweismittel sind gemeinschaftliche, 
so daß der einseitige Verzicht einer Prozeßpartei keine Wirkung äußert. Die Staats- 
behörde hat auch erhebliche Entlastungsbeweise in die B. aufzunehmen. Der deutsche 
Richter, welcher nur sonst nach Ermessen den Umfang der Beweisaufnahme be- 
stimmt, hat in Schwurgerichtssachen, in Strafkammersachen erster Instanz und bei 
Berufungen wegen mit öffentlicher Klage verfolgter Vergehen alle in der ersten 
B. angegebenen sowie die nachgeschobenen Beweise (vorbehältlich der Prüfung der 
Erheblichkeit bei geladenen, aber ausgebliebenen Personen) zu erheben; in Oester- 
reich ist der Gegenstand anderweit geregelt. 
Quellen: RtrafP O. 8§ 158, 198, 213, 218—221, 243—245, 421, 422, 449. — Oesterr. 
Straf PO. (1875), §§ 80, 112, 207, 222, 246, 451,. 470. 
Lit.: Löwe, Komm. zur Straf-H., * 198. — Ullmann, Oesterr. Straf PR., §§ 102, 
104, 178.— Fuchs, Anklage und Antragsdelikte, S. 12.— Heinze, Strafpr. Erörterungen, 
S. 57. v. Jagemann. 
Beweistheorie (Th. I. S. 623), d. h. die Gesammtheit derjenigen Regeln, 
welche über die Art und Weise gelten, wie dem Richter die Ueberzeugung von der 
Wahrheit der im Prozesse streitigen Thatsachen beschafft wird. Zur Zeit des ordo 
iudiciorum hatte der judex die reale Wahrheit ebenso zu erforschen, wie Jedermann 
sonst die Ueberzeugung von der Wahrheit eines Faktums zu erlangen sucht. Die 
zunächst von den Rhetoren für diese Operation aufgestellten Erfahrungsregeln sind 
zum Theil in die späteren Konstitutionen der röm. Kaiser ausgenommen worden 
und haben demnächst auch Eingang in die prozeßrechtlichen Titel des Corpus juris 
canonici gefunden. Indessen hat erst die mittelalterliche kanonisch-romanische Doktrin 
prinzipiell diesen Boden verlassen, indem sie wie überhaupt, so auch in diesem 
Punkte die Freiheit der richterlichen Bewegung der abstrakten Regel aus Furcht 
vor schädlicher Willkür opferte. Die einzelnen, in den Rechtsbüchern niedergelegten 
Aussprüche, welche nur als nicht unter allen Umständen maßgebende Erfahrungs- 
sätze gelten konnten, wurden als feste, vom Richter strikt zu befolgende Normen 
aufgefaßt und zugleich noch neue derartige Regeln entwickelt. Band man aber 
einmal den Richter an solche gesetzliche Vorschriften und ließ man ihn nur die 
Wahrheit einer Thatsache annehmen, wenn bestimmte vorgeschriebene Bedingungen 
erfüllt waren, so mußte man andererseits auch ein Recht der Partei darauf statuiren, 
daß der Richter für den Fall der Genügung jener Erfordernisse die betreffenden 
Fakta als wahr gelten ließ. So weit man auch entfernt war, mit dieser sog. 
gesetzlichen, legalen oder formalen Wahrheitstheorie dem System der Erforschung 
der realen Wahrheit oder freien Beweiswürdigung feindlich entgegenzutreten, viel- 
mehr umgekehrt die Sicherung der Klarstellung der materiellen Wahrheit vor Willkür 
des Richters beabsichtigte, so führte doch gerade die Anwendung fester und abstrakter 
Beweisregeln auf die unendlich mannigfaltigen Gestaltungen des wirklichen Lebens 
zu einem Formalismus und Schematismus, welcher das Ziel völlig verfehlte, das 
Wohl und Wehe der Prozeßparteien einer vielfach vom Richter als Menschen selbst 
nicht geglaubten juridischen Wahrheit opferte, und jenen die Zurückhaltung 
mit der realen Wahrheit oder die absichtliche Entstellung derselben nicht einmal 
mehr als sittliches Unrecht erscheinen ließ. Erst in unserem Jahrhundert sind diese
	        
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