Full text: Rechtslexikon. Erster Band. Aagesen - Fungible Sachen. (2.1)

750 Erziehungsanstalten. 
Erziehungsanstalten. Nach 8 55 des RStrafGB. kann Derjenige, welcher 
bei Begehung einer strafbaren Handlung das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet 
hat, wegen derselben nicht strafrechtlich verfolgt werden. Wol aber können gegen 
denselben nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vorschriften die zur Besserung und 
Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln getroffen werden; insbesondere kann die 
Unterbringung in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt erfolgen, nachdem durch 
Beschluß der Vormundschaftsbehörde die Begehung der Handlung festgestellt und 
die Unterbringung für zulässig erklärt ist. Auf Grund dieser Bestimmung ist man 
in Preußen zu einer landesrechtlichen näheren Regulirung der hochwichtigen, An- 
gelegenheit durch das Gesetz, betreffend die Unterbringung verwahrloster Kinder, 
vom 13. März 1878 (Gesetzfamml. S. 132; dazu Cirkularerlaß des Ministers 
des Innern vom 14. Juni 1878, Min. Bl. f. d. inn. Verwalt., S. 120, und Erlaß 
des evang. Oberkirchenraths vom 8. Jan. 1879) verschritten. Nach demselben gilt 
Folgendes: 1) Wer nach Vollendung des 6. und vor Vollendung des 12. Lebens- 
jahres eine strafbare Handlung begeht, kann von Obrigkeitswegen in eine geeignete 
Familie oder in eine Erziehungs= oder Besserungsanstalt untergebracht werden, 
wenn die Unterbringung mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der strafbaren Hand- 
lung, auf die Persönlichkeit der Eltern oder sonstigen Erzieher des Kindes und 
auf dessen übrige Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahr- 
losung erforderlich ist. 2) Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, dem Vormund- 
schaftsgerichte von den vorbezeichneten strafbaren Handlungen, welche zu ihrer 
Kenntniß gekommen sind, Mittheilung zu machen; eine Beschränkung auf Ver- 
brechen und Vergehen findet nicht statt, selbst Uebertretung einer Polizeiverordnung 
genügt beim Vorhandensein der sonstigen Voraussetzungen des Gesetzes. Das Vor- 
mundschaftsgericht hat nach vorgängiger causae cognitio (Gehör der Eltern, event. 
Großeltern, des Vormunds, Pflegers, Gemeindevorstands und der Ortspolizeibehörde 
— nöthigenfalls eines anderen Spezialvertreters der Regierung, wenn die ordent- 
liche Behörde sich lässig zeigt —, Zeugenvernehmung) eine Schlußverhandlung an- 
zusetzen, von welcher auch der Schulvorstand und Waisenrath zu benachrichtigen 
find. Der Beschluß auf Unterbringung hat den Eintritt der gesetzlichen Voraus- 
setzungen unter Bezeichnung der für erwiesen erachteten Thatfachen festzustellen. 
Rechtsmittel: a) sind die Eltern (Großeltern, Vormund, Pfleger) nicht gehört 
worden, so können sie jederzeit Wiederaufnahme des Verfahrens verlangen; b) gegen 
einen auf Unterbringung lautenden Beschluß binnen einer Woche Beschwerde der 
Eltern 2c., des Gemeindevorstands, Schulvorstands und Waisenraths mit aufschie- 
bender Wirkung zulässig. 3) Die Unterbringung selbst ist Obliegenheit der Pro- 
vinzialverbände (bzw. der kommunalständischen Verbände Wiesbaden und Kassel, 
der Landeskommunalverbände im Herzogthum Lauenburg und den Hohengollern-= 
schen Landen, der Stadtkreise Berlin und Frankfurt a. M.). Dieselben haben für 
die Einrichtung öffentlicher Erziehungs= und Besserungsanstalten zu sorgen, wenn 
und soweit es an Gelegenheit fehlt, durch Abkommen mit geeigneten Familien, 
Vereinen und Privatanstalten oder bestehenden öffentlichen Anstalten die Unter- 
bringung der verwahrlosten Kinder zu bewirken; ausgeschlossen sind Anstalten, welche 
zur Detention der im § 362 des Straf GB. bezeichneten Personen (Korrektionshäufer) 
oder zur Unterbringung von Kranken, Idioten, Landarmen und Gebrechlichen be- 
stimmt sind. Die Provinzial= und Kommunalverbände haben Anordnungen über die 
Beausfsichtigung der untergebrachten Kinder zu treffen und Reglements über die Ver- 
waltung des ihnen durch das in Rede stehende Gesetz übertragenen Verwaltungs- 
zweiges sowie der zu errichtenden Erziehungs= und Besserungsanstalten aufzustellen 
(Reglement für die Provinz Sachsen vom 21. Oktober 1878, für die Provinz 
Westpreußen und für die Rheinprovinz vom 29. April 1879). Eine Mitwirkung bei 
der gedachten Beaufsichtigung steht den Waisenräthen auch in Betreff der nach dem 
Gesetze untergebrachten, nicht bevormundeten Kinder zu. Im einzelnen Falle ist
	        
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