Redefreiheit. 313
derselbe jedem, auch dem geringsten Unterthan nicht entzogen werden dürfe. Die
neueren Deutschen Verfassungsurkunden haben aber den Grundsatz anerkannt, daß die
Mitglieder der gesetzgebenden Versammlungen in dieser ihrer Eigenschaft unverletzlich
seien — (vgl. z. B. Preuß. Verf. Urk. Art. 84) — und als ein Theil dieser Un-
verletzlichkeit stellt sich denn auch ihre Unverfolgbarkeit wegen der von ihnen in der
gesetzgebenden Versammlung gehaltenen Reden heraus. Doch waren hierbei folgende
Verschiedenheiten bemerkenswerth: 1) Einige Verfassungen stützten sich auf Art. 9
der bill of rights (That the freedom of speech and debates or proceedings in
Parliament ought not to be impeached or questioned in any court or place out
of Parliament) und schlossen jegliche Verfolgbarkeit der von Mitgliedern gesetzgebender
Versammlungen gemachten Aeußerungen aus. Nur innerhalb des Hauses war auf
Grund der Geschäftsordnung desselben gegen sie zu verfahren. Die Geschäftsordnungen
Deutscher Parlamente unterscheiden sich aber darin von der des Englischen, daß die
letztere außer den Rügen auch Einkerkerungen und Ausstoßungen der Mitglieder aus
dem Parlamente gestattet, während erstere nur Rügen des Präsidenten gegen die
erzedirenden Mitglieder kennen — nur die Bayerische Geschäftsordnung der zweiten
Kammer vom 28. Febr. 1825 und das Meiningensche Verfassungsgesetz von 1829
kennen auch die Ausschließung exzedirender Mitglieder aus der Kammer. Diese die
volle Unverantwortlichkeit der Kammermitglieder anerkennenden Verfassungen sind:
Die Bayerische Verfassung (26. Mai 1818, Art. 27); die Sachsen-
Meiningensche Verfassung (1829, Art. 99); Preußische Verfassung (31. Jan.
1850, Art. 48: „Sie (die Mitglieder beider Kammern] können für ihre Abstimmungen
in der Kammer niemals, für ihre darin ausgesprochenen Meinungen nur innerhalb
der Kammer auf den Grund der Geschäftsordnung /Art. 87] zur Rechenschaft gezogen
werden“); die Verfassung des Norddeutschen Bundes Art. 30: „Kein Mit-
glied des Reichstages darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen
der in Ausübung seines Berufes gethanen Aeußerungen gerichtlich oder disziplinarisch
verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden“.
Diese Bestimmung reproduzirte den Art. 4 des von der Frank'urter National-
versammlung beschlossenen Gesetzes vom 30. Sept. 1848, und ist unverändert in
die Verfassung für das Deutsche Reich übergegangen. 2) Eine zweite Kategorie von
Verfassungen ließ die Unverantwortlichkeit der Kammermitglieder zwar der Regel
nach bestehen, machte jedoch von dieser Regel Ausnahmen, und zwar theils in der
Weise, daß von der Nichtverfolgbarkeit nur ausgenommen werden solche Delikte,
welche die Verletzung einer Privatperson enthalten — Hessen-Darmstadt (Verf Urk.
1820, § 83), die frühere Kurhessische (18831, § 87), sowie die frühere Hohenzollern=
Siegmaringensche Verf. Urk. (1833, § 183); theils in der Weise, daß außer Privat-
delikten auch einzelne gegen den Staat gerichtete Delikte — Aeußerungen hochver-
rätherischen Inhalts, Beleidigung der Majestät und der Regierung, Beleidigungen
und Verleumdungen der Ständeversammlungen, des Bundestages, und ähnliches —
ausgenommen wurden. Zu den Verfassungen der letzteren Art gehören: die frühere
Hannöverische Verfassung (1833, § 110); die Württembergische Verf. Urk.
(1819, § 185); die Sachsen-Weimarische Verf. Urk. (1816, § 68); die Wal-
decksche Verf. Urk. (1852, § 68) und die Königl. Sächsische Verf. Urk. (1831,
§ 83). 3) Die Braunschweigische Verfassung (1832, § 134) und die Ver-
fassung von Reuß jüngerer Linie (1849, § 111) kennen für die Abgeordneten
keinerlei Exemtion von den Landesgesetzen. 4) Die Oldenburgische Verfassung
(1849, Art. 148) gestattete, daß der Landtag ein von einem Abgeordneten in Aus-
übung seines Berufes begangenes Delikt, abgesehen von der eigenen förmlichen Miß-
billigung, auch an die Gerichte verweisen dürfe.
Diese Verschiedenheiten sind nun durch § 11 des Deutschen Straf GB. in der
Weise beseitigt, daß der in Art. 30 der Verfassung für das Deutsche Reich aner-
kannte Grundsatz auch auf die Mitglieder der Landtage oder Kammern der zum