Politianus — Politische Verbrechen. 63
In diesen drei Fällen sind „vereinigte Senate“ Gerichtshöfe nicht zur Ent-
scheidung der streitig gewordenen Rechtsfrage allein, sondern zur Verhandlung und
Entscheidung der Sache selbst, insoweit dieser Ausdruck für Entscheidungen des Reichs-
gerichts überhaupt in Anwendung gebracht werden kann. (Vgl. Straf O. 88 393
bis 395, CPO. 88 527—529.)
In den unter 2) und 3) bezeichneten Fällen sind die Entscheidungen der „ver-
einigten Senate“ an die Stelle der früheren Plenarentscheidungen (vgl. Kab. Ordre
vom 1. August 1876 und Ges. vom 12. Juli 1869 über Errichtung des ROP.
§ 9) getreten. Während diese aber nur die streitige Rechtsfrage, also eine Voraus-
setzung für Erledigung der Sache selbst, entschieden, erledigen die „vereinigten
Senate“ die Sache selbst, und damit implizite auch die streitig gewordene Rechts-
frage. An die früheren „Plenarentscheidungen“ erinnert nur noch die Vorschrift des
GV. § 139, nach welcher die Zahl der Abstimmenden für die Entscheidungen der
„vereinigten Senate“ ebenso normirt ist, wie für „Plenarentscheidungen“ (nämlich
des Reichsgerichts). Durch § 139 wird somit für Entscheidungen der „vereinigten
Senate“ die Vorschrift des § 194 des GV. modifizirt. Unberührt bleibt aber
durch das G. § 139 die Vorschrift der Straf O. § 262, soweit diese letztere
Bestimmung der Natur der Sache nach überhaupt in Frage kommen kann.
Quellen sind im Text angeführt.
Lit.: Vgl. den Art. Gerichtsverfassung. John.
Politianus, Angelus, 5 1454 zu Montepulciano, Freund Lorenzo de
Medici's, 7 1494. Großer Philolog; auch für die Rechtswissenschaft thätig. Opera,
Venet. 1498; Paris. 1512; Basil. 1553.
Lit.: Sadisng VI. 435—446. — Buonamici, Poliziano giureconsulto, Pisa 1863.—
Mähly, A. P., Leipz. 1864. — v. Stintzing. Geshiche der Deutschen Rechts swissenschaft
(1880), I 5176—i78 u. ö. — Mommsen, p. XV Teichmann.
Politische Verbrechen. Der Ausdruck p. V. wird häufig gebraucht als
Gegensatz zu dem Ausdrucke gemeine Verbrechen. Gesagt soll damit werden, daß
es Verbrechen gebe, welche durch politische Motive veranlaßt werden, während dies
bei anderen — den gemeinen Verbrechen — nicht der Fall sei. Nun ist aber für
die Begriffsbestimmung des Verbrechens nicht maßgebend das Motiv, aus welchem
das Verbrechen hervorgeht, sondern es bestimmt sich der Begriff des Verbrechens,
wenigstens der Regel nach, durch dasjenige Recht, gegen welches die verbrecherische
Handlung gerichtet war. Dies ist der Grund, weshalb der Ausdruck p. V. selbst
etwas Schwankendes und Unbestimmtes hat. Denn giebt es schon einzelne Ver-
brechen, von denen behauptet werden kann, daß dieselben fast immer aus politischen
Motiven begangen werden — z. B. der Hochverrath — während bei einer großen
Zahl anderer Verbrechen die Veranlassung derselben durch politische Motive kaum
angenommen werden kann — z. B. Diebstahl, Betrug, Münzfälschung, Meineid —
so wird doch auch eine dritte Kategorie von Verbrechen aufgestellt werden können,
bei deren Begehung politische Motive ebenso gut vorhanden gewesen sein, wie auch
gefehlt haben können, wie dieses z. B. bei den Injurien, bei der Befreiung der Ge-
fangenen und sonst der Fall ist. Dazu kommt, daß einerseits auch bei denjenigen
Verbrechen, welche vorzugsweise es beanspruchen dürfen, p. V. genannt zu werden,
nicht selten andere als politische Motive obgewaltet haben — z. B. Eigennutz bei
Hochverrath oder Landesverrath — und daß andererseits diejenigen Verbrechen,
welche vorzugsweise gemeine Verbrechen genannt werden, mitunter auch wol aus
politischen Motiven begangen werden können — z. B. der Diebstahl von Schrift-
stücken, um die Pläne des politischen Gegners kennen zu lernen, die Tödtung u. a.
Wenn man trotz dieser Unbestimmtheit des Ausdrucks p. V. denselben dennoch
nicht aufgeben mag, so ist der Grund hierfür vielleicht in folgenden Umständen
zu finden. 1) Die p. V. haben eine gemeinsame historische Basis. Diese ist in
dem Roömisch-rechtlichen crimen majestatis (Lex Julia majestatis — unbestimmt,