586 Abschnitt IX. Strafgesetzbuch.
§. 53. Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung
durch Nothwehr 1) geboten war.
Nothwehr ist diejenige Vertheidigung, welche erforderlich ist, um einen
gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von sich oder einem Anderen abzuwenden.
Die Ueberschreitung der Nothwehr ist nicht strafbar, wenn der Thäter in
Bestürzung. Jurcht oder Schrecken über die Grenzen der Vertheidigung hinaus-
gegangen ist.
§. 54. Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung
außer dem Falle der Nothwehr in einem unverschuldeten, auf andere Weise
nicht zu beseitigenden Nothstande zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr
für Leib und Leben des Thäters oder eines Angehörigen begangen worden ist?.
§. 55. Wer bei Begehung der Handlung das zwölfte Lebensjahr nicht
vollendet hat, kann wegen derselben nicht strafrechtlich verfolgt werden.
Gegen denselben können jedoch nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vor-
schriften die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln getroffen
werden. Insbesondere kann die Unterbringung ) in eine Erziehungs= oder
Besserungsanstalt erfolgen, nachdem durch Beschluß der Vormundschaftsbehörde
die Begebung der Handlung festgestellt und die Unterbringung für zulässig er-
ärt ist.
§. 56. Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das zwölfte, aber
nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung be-
gangen hat, ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur Er-
kenntniß ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht) nicht besaß.
In dem Urtheile ist zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner Familie
überwiesen oder in eine Erziehungs= oder Besserungsanstalt ) gebracht werden
) Die Nothwehr kann unter Umständen auch in Gestalt eines Angriffs erfolgen.
Ob der Angegriffene, wenn er sich dem Angriffe durch die Flucht entziehen kaunn
hierzu verpflichtet ist, hängt gleichfalls von den Umständen ab, insbesondere kommt es
darauf an, ob die Flucht nicht etwa nach den Anschauungen des gesellschaftlichen
Verkehrs sich unter den gegebenen Umständen als schimpflich oder unehrenhaft dar-
stellen würde, Erk. 13. Mai 1887 (E. Crim. XVI. 69).
Vergl. zum Begriffe der Nothwehr noch E. Crim. XIX. 298; XXlI. 190.:
XXIII. 117; Putativnothwehr XIX. 298; XXI. 191. v
*) Die minderwichtige Pflicht muß vor der Erfüllung der höheren zurückstehen,
vergl. E. Crim. XX. 190.
2:) Vergl. Ges. 13. März 1878, betr. die Unterbringung verwahrloster Kinder
weiter unten.
4) Die Frage, ob ein zwischen 12 und 18 Jahren stehender Angeschuldigter mit
der seine Strafbarkeit bedingenden Einsicht gehandelt habe, ist durch den Richter von
Amtswegen zu erörtern; dem angeschuldigten liegt in dieser Beziehung keine Be-
weislast ob, Opp. zu §. 56 (E. Crim. XXIII. 251).
2) Die Regierungs. Präsidenten und der Polizei-Präsident in Berlin sind ermächtigt
Angeschuldigte, welche das zwölfte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr über-
schritten haben und auf Grund des §. 56 des Strafgesetzbuches zur Unterbringung
in eine Besserungsanstalt bestimmt sind, an Privatanstalten, Privatvereine oder an
geeignete und zuverlässige Privatpersonen mit denselben Maßgaben zu überweisen, welche
bei der Detention in einer Besserungsanstalt stattfinden, K. O. 23. Juni 1882 (M.
Bl. S. 209) und Res. 5. Juli 1882 (M. Bl. S. 209).
Die auf Grund des §. 42 des früheren und §. 56 des neueren Strafgesetzbuches
erfolgende Unterbringung jugendlicher Uebelthäter in einer Erziehungs= oder Besserungs-
anstalt ist nicht als Strafe, sondern als eine im allgemeinen polizeilichen Interesse
getroffene Maßregel anzusehen und es kann demzufolge die Erstattung der Kosten aus
dem Vermögen der Untergebrachten nicht verlangt werden, Res. 11. Dez. 1888 (M.
Bl. 1889 S. 6).
Der Richter hat darüber zu befinden, ob der jugendliche Angeklagte seiner Familie
überwiesen oder ob er in einer Erziehungs= oder Besserungsanstalt untergebracht
werden soll; die Entscheidung darüber, ob in einer Erziehungs- oder in einer
Befserungsanstalt, steht der Verwaltungsbehörde zu, Erk. R. Ger. 30. Sept. 188
(E. Crim. VII. 180). Wenn jugendliche Personen, welche auf Grund des §. 56